Lutherbilder der Frühen Neuzeit

Robert Kolb

Das erste moderne Public-Relations-Event präsentierte der westeuropäischen Öffentlichkeit die Figur eines Augustinermönchs, der an einer neugegründeten Hochschule an der Grenze der deutschen Gelehrtenwelt unterrichtete: Martin Luther. Anfang November 1517 hatten es ein paar unternehmungsfreudige Verleger gewagt, ein Flugblatt mit dem Aufruf zu einer gelehrten Debatte über den Ablasshandel zu drucken, den der Wittenberger Professor als ernstes Problem für die Seelsorge in der Kirche ansah. Und das Risiko hatte sich für sie ausgezahlt. Dieser Erfolg wiederum führte Luther unmittelbar vor Augen, welche Macht die Drucker besaßen, und vor allem, welch wichtige Rolle sie in seinem Team, das sich für die Verbreitung des Reformaufrufs im Lauf der kommenden Monate bilden würde, spielen konnten. Andrew Pettegree beschreibt, wie Lucas Cranach d. Ä. (um 1472–1553), Luthers Freund und Künstler am kurfürstlichen Hof von Wittenberg, in Zusammenarbeit mit anderen Protagonisten der noch in den Kinderschuhen steckenden Wittenberger Druckindustrie die „Marke Luther“ erfand, indem sie den Titelseiten der Flugschriften einheitlich gestaltete Holzschnittrahmen gaben und ihnen die seit Neuestem üblichen Erwähnungen von Autor und Druckort hinzufügten: „Luther“ und „Wittenberg“, das waren die Angaben, die die Käufer anzogen.1 Luthers sprachliches Talent, sein Verständnis für die Relevanz der christlichen Botschaft für das tägliche Leben und sein unternehmerisches Geschick verschafften ihm binnen kürzester Zeit eine europaweite Prominenz, die fünfhundert Jahre später immer noch nachwirkt.

Luther als Prophet und Held in Text und Bild

In den Jahren 1518 und 1519 nutzte Luther das neue Druckerhandwerk extensiv. Bis Anfang 1520 erschienen aus seiner Hand knapp 30 Titel in lateinischer und deutscher Sprache. Bernhard Adelmann (1457–1523), ein früher begeisterter Anhänger Luthers, der allerdings nie den römischen Gehorsam aufgab, berichtete im Januar 1519, dass manche Luther für verrückt hielten, andere ihm aber die Leidenschaft eines Propheten zusprachen.2 Zu Jahresende vermerkte Luthers späterer Gegner Ulrich Zwingli (1484–1531) in einem Brief, dass er und andere Humanisten aus süddeutschen und schweizerischen Kreisen daran glaubten, dass Martin Luther die Erwartung eines zeitgenössischen Elias erfülle, des lange angekündigten Propheten, den Gott senden sollte, um Kirche und Gesellschaft zu erneuern.3 Unbeteiligt reagierte jedenfalls kaum ein Zeitgenosse auf Luther. Seine Feinde verdammten ihn als Verkörperung der zerstörerischen Kraft Satans in der Kirche und gaben ihm dämonische Züge. Seine Anhänger hielten ihn dagegen für den Abgesandten Gottes, für den Kirchenlehrer im Angesicht des näher rückenden Jüngsten Gerichts sowie für den Helden, der gegen die Feinde der Gotteskirche, der rechten Lehre und der deutschen Nation kämpfte.4 Allerdings argumentiert Pettegree: „A movement that articulated the primacy of the Word was never entirely comfortable with the promotion of any sort of personality cult around Luther.“5

Auch wenn tatsächlich manch frühe Darstellungen die Person Luthers in den Mittelpunkt stellen und ihr heldenhafte Züge über dessen eigentlichen Botschaft hinaus gaben, ging diese Darstellungsweise bis 1530 weitgehend zurück. Es war sein Name und nicht sein Bild, das die Wittenberger Titelseiten zierte, obgleich sein Porträt um 1520 auf Titelseiten auftauchte, die in anderen Städten gedruckt wurden. Die „Heroisierung“ sollte erst mit dem „aufgeklärten“ 18. Jahrhundert und mit dem „nationalistischen“ Bild von Luther im 19. Jahrhundert richtig zur Blüte gelangen.

Klagen von Historikern, Luthers Schüler hätten späteren Generationen kein verlässliches und genaues Bild ihres Mentors hinterlassen, verraten mehr über diese modernen Kritiker selbst als über die Luther-Darstellungen der Schüler. In seinem Aufsatz über die Predigten des Luther-Schülers Cyriacus Spangenberg (1528–1604) beschwert sich Wolfgang Herrmann, der Student habe der Nachwelt keinen präzisen Eindruck von seinem Professor überliefert, weil sein Lutherbild nur positive – meist überzogene – Eigenschaften aufweise: Luther als Heiliger oder als „Gotteskämpfer“ in der Tradition der großen Helden der Bibel- und Kirchengeschichte.6 Herrmann entgeht dabei die Relevanz solcher unter Luthers Zeitgenossen gängigen Beschreibungen. Diese hatten in ihren Begegnungen mit diesem einzigartigen Mann immerhin eine außergewöhnliche Erfahrung gemacht. Bereits zu Beginn von Luthers Werdegang formten sich die Bilder, die sich die Zeitgenossen vom Wittenberger Hochschullehrer machten, im Kontext von spätmittelalterlichen Erwartungen eines dramatischen, vielleicht sogar wundersamen Eingreifens Gottes in eine Welt, die sich im raschen Niedergang zu befinden schien. Luthers Schüler und Zeitgenossen stellten ihn in den Rahmen ihrer apokalyptischen Hoffnungen und sahen in ihm eben nicht nur den Propheten, der das Ende der Welt ausrief, sondern auch den Apostel, der das Evangelium verkündete, und sogar den Engel der Apokalypse (Offb 14,6–7). Das, was Luther geschaffen hatte, indem er Machtverhältnisse, Kirchenpolitik und die dörfliche Frömmigkeit veränderte, und zwar gerade mal bis zu dem Zeitpunkt, da Spangenberg im Jahr 1542, im zarten Alter von 14 Jahren nach Wittenberg kam – das hatten andere weder in Spangenbergs restlicher Lebenszeit noch in den unmittelbar vorausgehenden Jahrhunderten erreicht.

Schon die Generation von Spangenbergs Vater Johannes (1484–1550) hatte ihre Verehrung Luthers in solchen Begriffen ausgedrückt. Vom humanistischen Domprediger in Augsburg Urbanus Rhegius (1489–1541) wurde Luther 1521 als „reiner Tor des Evangeliums“ dargestellt,7 er predige die Botschaft von der Befreiung „uß der babilonischen gefecknuss“ und sei der von Gott gesendete Elias.8 Als Rhegius und Luther im Jahr 1530 auf der Coburg zusammentrafen, beschrieb Rhegius seine Eindrücke folgendermaßen: „Luther war für mich immer gross, aber jetzt ist er für mich der Größte“,9 und noch zehn Jahre später hielt er daran fest: Luther „bleybt noch wol ein Theologus fuer der gantzen welt/ das weyß ich/ ich kenne ihn nun baß den zuvor/ ehe ich ihn hab selbs gesehen und gehoert“.10

Friedrich Myconius (1490–1546) war Luther persönlich begegnet, mehrere Jahre bevor er mit der Kirchen- und Schulreform in Gotha begann. Seine Erinnerungen an die Anfänge der Wittenberger Reform, verfasst in den frühen 1540er Jahren, parallelisiert Luthers Auftritt auf der Bühne der Weltgeschichte mit der Ankunft Christi: Luther habe in einer kleinen Kapelle zu predigen begonnen, die auf dem Fundament des Augustinerklosters in Wittenberg stand, „ein alt Capellen, von Holtz gebauet, und mit Lehmen gekleibt: das war sehr baufaellig. […] Es hat allenthalben das Ansehen, wie die Mahler den Stall mahlen zu Bethlehem, darinn Christus gebohren war“.11 Myconius präsentiert Luther damit nicht nur im Kontext des zentralen Moments der Heilsgeschichte, sondern stellt ihn zugleich in einen Zusammenhang mit ihrer weiteren Entwicklung:

So hat das Kirchlein, darinn Johannes Huß zu Prag gepredigt, auch Bethlehem geheissen. In dieser armen, elenden, jaemmerlichen Capellen hat GOtt zu diesen letzten Zeiten sein liebes heiliges Evangelium, und das liebe Kindlein Jesus lassen neu gebohren warden; und dasselbe lassen einmahl auswickeln, und aller Welt anzeigen, wie ein schoen, lieblich, troestlich und seeligs Kindlein Jesus sey: daraus wir alle unser Seelikeit, Bezahlung der Suend und ewigs Leben nehmen und empfahen.12

Als Luther im Jahr 1517 die 95 Thesen über den Ablass verfasste, verbreitete sich das veröffentlichte Flugblatt Myconius zufolge in Windeseile in ganz Deutschland:

Aber ehe 14. Tag verguengen, waren diese propositiones das gantze Deutschland, und in vier Wochen schier die gantze Christenheit durchlauffen: als waeren die Engel selbst Botenlaeuffer, und trügens fuer aller Menschen Augen.13

Hans Sachs (1494–1576) führte die deutschen Dichter im Lutherlob an. In seiner Wittembergisch Nachtigall, Die man yetz höret vberall, einem Gedicht in über 700 Versen, wird „Doctor Luther“ als Nachtigall gepriesen, die mit ihrem Gesang das vernachlässigte und misshandelte Schaf der Christenheit erweckt, es vor den Gefahren durch den päpstlichen Löwen warnt und es zur Wahrheit der Schrift anführt (Kat. Nr. 36).14 Sachs hielt Luther für den Kirchenlehrer, der in seiner Haltung gegenüber dem Papsttum und in seiner Kritik der scholastischen Theologie Mut und tiefe Einsicht bewies – belohnte diese Nachtigall aber mit keinen weiteren Schriften. Das taten andere, nachdem Sachs aus der öffentlichen Diskussion über Luther ausgetreten war. Nach Luthers Auftritt auf dem Wormser Reichstag bejubelte ihn etwa Michael Stifel (1487–1567), Pastor in Mansfeld und Mathematikdozent an der Wittenberger Universität, als den Engel der Apokalypse in seinem 32‑strophigen Lied mit dem Titel Von der Christförmigen, rechtgegründten leer Doctoris Martini Luthers, das mittelalterliche Hoffnungen und Sehnsüchte widerspiegelt. So beginnt das Lied mit

JOannes thut vns schreiben | von einem Engel klar, | Der Gottes wort soll treiben | gantz luter offenbar“. Im Mittelpunkt stehen einfache Zusammenfassungen einzelner Elemente aus Luthers Lehre, doch lobt es auch dessen Haltung in Worms: „Sein hertz zu Gott er neyget | recht als ein christen man, | Die gschrifft er rein abseyget, | kein wust lasszt er doran: | Zu Worms er sich erzeyget, | er tratt keck vff den plan, | sein feynd hatt er geschweyget, | keiner dorfft jn wenden an.15

Luther band in dieser Zeit seine Arbeit eng an die Botschaft der Propheten und Apostel, ohne einen derartigen Titel für sich zu beanspruchen. Timothy Wengert zeigt, dass er seit 1522 Begriffe aus den Paulusbriefen benutzte, um die apostolische Natur der Botschaft hervorzuheben, die er verkündete.16 Und Mark Edwards zeichnet nach, wie sich Luthers Verbindung seiner Botschaft mit jener der Propheten und Apostel verstärkte, beteiligte er sich nach eigener Ansicht doch an ihrer Aufgabe, dem Volk Gottes das göttliche Erlösungswort mitzuteilen.17

Unter den Anhängern Luthers befanden sich auch prominente Künstler der Zeit. Viele von ihnen trugen mit ihren Darstellungen des Mönchs aus Wittenberg auf Titelblättern von Flugschriften zu der wachsenden Aura um Luther bei. Ein frühes Porträt von 1519 zeigt Luther in Doktorrobe und ‑hut, ohne jedes Bemühen um die Erfassung seiner persönlichen Gesichtszüge (siehe Beitrag Klaus Conermann, Abb. 6). Eine Abbildung von Lucas Cranach d. Ä. aus dem Jahr 1520 bildet sein aktuelles Erscheinungsbild als Augustinermönch mit Tonsur und Kutte schon getreuer ab (Kat. Nr. 10, Abb. 1). In den folgenden Jahren 1521 und 1522 tauchen öfters Symbole für Heiligkeit auf Lutherporträts auf. Zuerst legte Cranach ihm eine Bibel in die Hand, dann ließen etwa Hans Baldung Grien (1484? –1545) oder Daniel Hopfer (um 1470–1536) den heiligen Geist als Taube über seinen Kopf und/oder den Heiligenschein um seinen Kopf schweben (Kat. Nr. 10). In der Art von traditionellen Darstellungen des heiligen Hieronymus setzte ihn etwa der Nürnberger Verleger Hans Hergot (bis 1527) auf der Titelseite seines Druckes von Luthers Neuem Testament im Jahre 1525 zusammen mit einer Taube, dem Sinnbild des Heiligen Geistes, an einen Schreibtisch. Hans Holbein d. J. (1497/8–1543) wiederum adaptierte die Geschichte von Herkules, dem Bezwinger bösartiger und wilder Tiere, wenn er Luther als „deutschen Herkules“ zeigt, dessen Keule Aristoteles, Thomas von Aquin, Wilhelm von Ockham, Nicolaus von Lyra, Petrus Lombardus und Duns Scotus vernichtet (Abb. 1). Holbein kleidete Luther zwar in ein Mönchsgewand, fügte der Figur seines Helden aber die traditionellen Herkulesattribute hinzu: das in den Gürtel gesteckte Löwenfell und die Keule in der Hand.

Abb. 1
Abb. 1 Hans Holbein d.J.: Luther als Hercules Germanicus, kolorierter Holzschnitt, um 1519. Zentralbibliothek Zürich: Ms A 2, S. 150
Diese Abbildung ist urheberrechtlich geschützt

Robert Scribner unterscheidet diese künstlerische Interpretationen in drei Kategorien: Luther als Heiliger im Mönchsgewand, Luther als Gelehrter in seiner Doktorrobe (hier schlägt Scribner noch die Unterkategorie ‚Luther als Mann der Bibel‘ vor) sowie Luther als nationaler und humanistischer Held, der gegen scholastische und fremde Einflüsse kämpft. In seiner Analyse des Vorkommens der ersten beiden Kategorien – die dritte gibt es im 16. Jahrhundert so gut wie gar nicht – identifiziert Scribner Luther 31‑mal als Mönch und 17‑mal als Doktor der Theologie; bei weiteren acht Darstellungen kommt zum Porträt des Mönchs das Motiv des Heiligen hinzu und ebenso bei zwei Gelehrtenporträts; schließlich liegt auf 25 Abbildungen die Bibel in der Hand des Mönchs sowie auf sechsen in der Hand des Gelehrten.18

In den 1530er Jahren hatten die Künstler ihre Lutherporträts schließlich gebändigt. Nimbus, der über dem Kopf schwebende Heilige Geist und Herkulesattribute waren aus dem Repertoire verschwunden. Mit nur wenigen Ausnahmen wurde das Bild von Luther als Gelehrter zur einzigen Option. Der mit ihm befreundete Lucas Cranach d. Ä. und sein gleichnamiger Sohn (1515–1586) stellten ihn auf diese Weise etwa auf dem Weimarer Altar dar, wo er neben Johannes dem Täufer steht und mit der Bibel in der Hand auf Jesus Christus am Kreuz zeigt, oder auch auf dem Wittenberger Altar, wo er auf der Kanzel wiederum auf den Gekreuzigten weist. Ein 1551 gedrucktes Gedächtnisbild Lucas Cranachs d. J. präsentiert Luther laut Beischrift als Gottes „sonderlichen darzu erwelten werckzeug/ das lauter vnd klar Liecht seines heiligen Euangelij/ wider an rechten vnd seligen tag/ zu diesen letzten zeiten bracht hat“.19

Um 1580 fertigte Lucas Cranach d. J. Riesenholzschnitte an, ganzfigurige, lebensgroße Lutherdarstellungen, die als Wandhängungen dienten: Für die Ausstattung des Wohnraums konnte man außerdem als Ergänzung Porträts von Philipp Melanchthon (1497–1560) und Jan Hus (1369–1415) erwerben.20 Wenn Luther lebensgroß dargestellt wurde, so stand er dabei nicht allein da.

Seit 1517 erschienen Lutherdarstellungen auf Erinnerungsmünzen und ‑medaillen, die adelige und bürgerliche Familien des 16. Jahrhunderts als Hobby sammelten. Diese Medaillen trugen Botschaften, die Luther als Apostel oder Propheten preisten.21 Kurz nach der Verdammung Luthers durch Papst und Kaiser 1521 erschien eine Medaille mit dem Argument, wenn Luther ein Häretiker sei, müsse Jesus Christus ebenfalls ein Krimineller gewesen sein.22 Nach seinem Tod wiederholten viele Medaillen seinen aufsässigen Ausruf

Pestis eram vivus, moriens tua mors ero, papa.23

Neben Porträts produzierten die Cranach-Werkstatt und andere auch erzählerische Motive, die den Triumph Luthers über den Papst auf verschiedene Weise darstellen, etwa nach einem Traum, der Friedrich dem Weisen (1463–1525) zugeschrieben wurde: Dort schlägt die Schreibfeder eines Mönchs, die von der Kirchentür, auf die er seine Botschaft schreibt, bis nach Rom reicht, die Tiara vom Kopf des Papstes (siehe Exponat Göttlicher schriftmäßiger wohldenkwürdiger Traum).24 Andere Motive erinnern an spezifische Elemente in Luthers Botschaft, an seine Rolle in der Geschichte oder an seinen Charakter. Zahllos sind die künstlerischen Darstellungen, die Luther mit dem Schwan assoziieren und so an die Jan Hus zugeschriebene Prophezeiung erinnerten, der zufolge beim Säubern der Kirche von päpstlicher Verderbnis auf die Gans (tschechisch „husa“) ein Schwan folgen werde (Abb. 2).25

Abb. 2
Abb. 2 Johann Wilhelm Michaelis: Luther mit dem Schwan, Kupferstich, spätes 17./ frühes 18.Jahrhundert. HAB: Portr. A 13117

Das persönliche Symbol des Reformators wiederum, die Rose, erscheint nicht nur häufig auf Luther-Holzschnitten und ‑Gemälden, sondern liegt auch mindestens einer gedruckten Predigt zugrunde: Andreas Kreuch (bis 1615), der in seiner Kirche im thüringischen Illeben unter einer Abbildung einer Lutherrose predigte, bestand in seiner Rede über das Sigillum Lutheri (1579) darauf, Luther keineswegs zum Idol zu verklären, sondern vielmehr seine Lehre zur Vermittlung dessen zu benutzen, was Jesus Christus, Paulus und alle anderen Propheten und Apostel gelehrt hatten. Ein kurzer Abriss über Luthers Leben leitete Kreuchs Kommentierung der Symbolik von Luthers spezifischer Gestaltung der Rose ein: Ihre weiße Farbe erinnert die Gemeinde an das tröstende Versprechen der Hilfe Gottes gegen Sünde, Tod, das Böse und alle Feinde des Gläubigen. Das Herz ermahnt sie an ihr Bekenntnis, das sie von Herzen abgegeben hatten. Das Kreuz in der Mitte der Rose verweist auf die Leiden im christlichen Leben und auf Jesus Christus als den Kreuzfahrer, der alle Gegner seines Volkes bezwingt. Das Kreuz ist schwarz, um die Aufmerksamkeit auf die Bitterkeit des eigenen und Christi Leidens zu lenken (vgl. den Beitrag von Klaus Conermann).26

Über die graphischen Darstellungen gelangte Luther bis ins 20. Jahrhundert in die vier Wände vieler Häuser in den deutschsprachigen Ländern und darüber hinaus. Eigentlich gehörte Matthaeus Ratzeberger (1501–1559), ehemaliger Leibarzt des Kurfürsten Johann Friedrich d. Ä. (1503–1554), aufgrund seiner engen persönlichen Freundschaft zu Luther nicht zu den typischen Konsumenten einer solchen Art von Kunst. Die vom Pastor Andreas Poach (um 1515–1585) aufgezeichnete Geschichte von Ratzebergers Tod umfasst auch eine Schilderung der letzten Stunden. Demnach lenkte der sterbende Arzt seinen Blick auf das Porträt von Luther an seiner Wand und sagte „mit froelichem mut/ vnd halblachendem munde/ Mein lieber Luther.“ Dann wandte er sich an Poach und die anderen Anwesenden: „ob Gott wil/ ich wil bald bey jm sein/ da wollen wir gar gute reden mit einander haben/ von vielen seltzamen wuenderlichen sachen/ so sich nach seinem Abschied zugetragen haben“.27 Wer Luther gekannt hatte, bewunderte ihn und schätzte seine Taten, vor allem aber hatten alle seine Gesellschaft genossen.

Kontroversen um Luthers Autorität und die Bekenntnisschriften

Besonderen Respekt brachten die Verleger Luther entgegen. Er galt als gut zu vermarktender Autor.28 Johannes Froben (um 1460–1527) etwa erachtete ihn als ersten Autor einer schon zu Lebzeiten erscheinenden Ausgabe seiner „Gesammelten Werke“ (1518) für würdig. Die Einwände von Frobens Freund Erasmus von Rotterdam (1467/9–1536) und die Verurteilung Luthers durch Papst und Kaiser bereiteten dem Publikationsvorhaben allerdings schon im folgenden Jahr ein vorzeitiges Ende.29 Als die Wittenberger Kollegen zwanzig Jahre später eine ähnliche, freilich wesentlich größere Anstrengung unternahmen, waren Luthers Werke weit mehr als nur vermarktbar – sie besaßen bereits den Glanz der Autorität. Eike Wolgast spricht sogar von einer „Quasi-Papalisierung“ von Luthers Schriften zu dessen Lebzeiten,30 da die Protestanten mit dem Wegfall der Deutungshoheit des Papstes und der Konzile sowie mit dem Niedergang der Autorität der alten Kirchenväter als Interpreten des biblischen Textes eine Begründungsautorität für Fragen und in Streitfällen benötigten. Von Fürsten, Predigern und anderen empfing Luther Anfragen nach seiner Meinung, die er brieflich beantwortete, und wurde so zu Lebzeiten zu einer Quelle des Ratschlags von beträchtlicher Autorität.31 Zu dieser Zeit wurde die gesamte Wittenberger Fakultät oftmals um autoritative Antworten auf Fragen angesucht; Luther schrieb an diesen Gemeinschaftsgutachten des Wittenberger Kollegiums mit, auch wenn Melanchthon am häufigsten als Hauptautor beteiligt war.32 Als Luther starb und seine Kollegen wegen ihrer Zusammenarbeit mit Kurfürst Moritz (1521–1553) verdächtig wurden, beruhigte es die Auseinandersetzung, wenn ein Band mit Schriften aus Luthers Feder aus dem Regal genommen wurde. Wie Wolgast bemerkt, übertrug sich die Autorität der lebenden Person Luthers auf seine Schriften und hatte über seinen Tod hinaus Bestand.33

Die Bedeutung von Luthers Autorität zeigte sich zum Teil nach seinem Tod im Zusammenhang mit den Kontroversen über die richtige Deutung seiner Botschaft, die sich in den 1550er Jahren entfalteten. Die erste Kontroverse, die Unterschiede in Schwerpunktsetzung und Auslegung innerhalb des Wittenberger Kreises zutage förderte, betraf die Kompromisse in der Kirchenpolitik der kurfürstlich-sächsischen Regierung von Moritz, den Kaiser Karl V. (1500–1558) nach dem Sieg über Johannes Friedrich d. Ä. 1547 mit der Kurwürde belohnte. In ihrem Versuch, die Universität Wittenberg zu retten und Kanzeln für lutherische Prediger zu bewahren, halfen Melanchthon und seine Wittenberger Kollegen den kurfürstlichen Beamten bei der Abfassung eines Kompromisses, dem sogenannten Leipziger Entwurf oder „Interim“ von 1548. Für jene, die dies als einen schändlichen Verrat sowohl am Evangelium als auch an Luther ansahen, wurden Luthers eigene Worte über die Erfordernis eines unerschütterlichen Bekenntnisses angesichts der Gefahr für die Klarheit des Gotteswortes zu einem Instrument im Kampf gegen den Kompromiss.34 In ihren Angriffen auf das Leipziger Interim führten Matthias Flacius Illyricus (1520–1575) mit seinem Freund Nikolaus Gallus (1516–1570), Nikolaus von Amsdorf (1483–1565) aus Magdeburg35 und Joachim Westphal (um 1510–1574) aus Hamburg36 umfängliche Lutherzitate gegen ihre Gegner ins Feld, doch in ihren Bezugnahmen auf seine Schriften schreiben sie Luther keine übermäßige Autorität zu, die über den Umstand hinausgeht, dass er ihr geliebter Lehrer war. Gleichwohl weist die Zusammenstellung von Bibelvers (Mal 3,23) und Porträt zu Beginn von Flacius’ Briefedition Luther einmal mehr als ‚neuen Elias‘ aus (Abb. 3). Sie stützten sich auf historische Tatsachen und bemühten sich lediglich darum zu zeigen, dass die Regierung von Moritz und ihre theologischen Unterstützer einschließlich Melanchthon Luthers Theologie aufgegeben hatten.

Abb. 3
Abb. 3 Matthias Flacius Illyricus: Etliche Brieffe/ des Ehrwirdigen Herrn D. Martini Luthers, Magdeburg: Christian Rödinger 1549, verso Titelblatt. HAB: A: 236.50 Theol. (2)

Aus dieser Kontroverse erwuchs der nächste Konflikt über den Ausdruck „gute Werke sind notwendig für die Seligkeit“ im Leipziger Vorschlag, der von Melanchthons Kollegen Georg Major (1502–1574) verteidigt wurde.37 In dieser Kontroverse gab ein weiterer Magdeburger Pastor, Albert Christian, Luthers Thesen über die Werke des Gesetzes und die Werke der Gnade von 1537 erneut heraus und berief sich dabei auf Luther, dessen Lehre er in Begriffen beschrieb, die sonst der Heiligen Schrift zugeschrieben werden (2 Petr 1,19 u. 21): „von dem heiligen Geist getrieben“ – solle von Luther „das prophetische und apostolische Wort fester gemacht“ werden.38 Dies ging über die bloße Absicht hinaus, einfach nur die historische Tatsache von Luthers Position zu bestimmen, beruhte es doch auf der Annahme, dass Luther bei der Auslegung der Bibel über eine spezifische Autorität verfügte. Doch selbst Cyriacus Spangenberg, der im Mai 1579 in einem Brief an den Kurfürsten August von Sachsen (1526–1586) Luther als „einige rechte Ausleger“ der Heiligen Schrift bejubeln konnte39 und ihm damit ausdrücklich diese Art von Autorität zuschrieb, gehörte zu jenen, die ihn zugleich lediglich als einen unter mehreren Zeitgenossen ansahen, „dem er [Spangenberg] folgte“: „secutus profecto cum Scripturae, Augustini, Lutheri, Rhegij, Brentij et aliorum filum et stylum“.40

In den drei Jahrzehnten nach Luthers Tod formulierten die lokalen und territorialen Kirchen ihre Doktrin in offiziellen Glaubenserklärungen oder ‑bekenntnissen. Manche Kirchen setzten Luthers Schriften als Ganzes neben das Augsburger Bekenntnis und weitere Dokumente wie die Apologie des Augsburger Bekenntnisses. Dabei sollten Luthers Katechismus und seine Schmalkaldischen Artikel als sekundäre Autoritäten und als Anleitung und Standard für die öffentliche Lehre dienen; andere Kirchen wählten einzelne Abhandlungen aus Luthers Feder aus. Die Lüneburger Erklerung von 1561 beispielsweise bestimmte Luthers Schmalkaldische Artikel, seine Katechismen und andere „Schrifften“ zur Standarddoktrin für die Bibelauslegung zusammen mit den altkirchlichen Bekenntnissen, dem Augsburger Bekenntnis und seiner Apologie.41 Das 1567 für die Kirchen der Grafschaften von Reuss und Schönburg verfasste Bekenntnis legte eine ähnliche Liste fest, in der Luthers Werke als sichere, korrekte und wahre Darstellung der Bibellehre aufgeführt wurden, wie sie auch in seinen Katechismen zusammengefasst ist.42 Als die Kirche von Brandenburg 1572 einen Lehrstandard festzulegen versuchte, orientierte sie sich für ihre sekundäre Autorität, die das öffentliche Predigerwesen im Kurfürstentum anleiten sollte, am Augsburger Bekenntnis und dem Kleinen Katechismus, und zwar so, wie sie im Lichte der anderen Lutherschriften verstanden wurden: Der Text Erklerung und kurtzer Außzug aus den Postillen vnd Lehrschrifften des thewren Mans Gottes D. Lutheri über die fürnembsten Artickeln vnserer Christlichen Religion übernahm eine unterstützende Rolle bei der Kodifizierung der Autorität des Augsburger Bekenntnisses und des Kleinen Katechismus, als Erklärung der beiden Dokumente, die der Kirche als sekundäre Autoritäten dienten.43

1577 einigten sich etwa zwei Drittel der evangelischen Landeskirchen auf eine Definition des Vermächtnisses von Luther und Melanchthon in der Konkordienformel, die Luthers Autorität klare Grenzen setzte. Luther wurde zwar als „Garant des wahren Verständnisses der heiligen Schrift“ bezeichnet,44 das Dokument sprach aber abgesehen von den Schmalkaldischen Artikeln und den Katechismen keiner seiner Schriften sekundäre Autorität zu. Diese kam den anderen Dokumenten zu, die in das Konkordienbuch von 1580 Eingang gefunden hatten. Luther diente lediglich als zuverlässiger Ausleger des Augsburger Bekenntnisses. Zwar wurden seine Worte zitiert, um die in der Konkordienformel vertretenen Positionen zu stärken, seine Schriften besaßen als Korpus aber keine formale Autorität. Er war der Lehrer, „welcher ja die rechte, eigentliche meinung der Augspurgischen Confeßion vor andern verstanden und bestendiglich biss an sein ende darbey geblieben und verteidget“, und die Leser konnten am besten die Wahrheit des Bekenntnisses „aus D. Luthers, als des fürnemsten Lerers der Augspurgischen Confeßion erklerung, was der Augspurgischen Confeßion eigentliche meinung und verstandt in diesem Artickel allzeit gewesen sey, ungezwefelt vernemen“.45

Der Gebrauch von Luthers Schriften als sekundäre Autorität für die offizielle Lehre hatte sich aus mehreren Gründen als gescheitertes Experiment erwiesen. Obwohl sie allgemein als weniger bedeutsam angesehen wurden, reklamierten auch andere Zeitgenossen Respekt als Kirchenlehrer. Dazu gehörten vor allem Philipp Melanchthon und Johannes Brenz (1499–1570), doch die Liste könnte beliebig verlängert werden. Zudem blieb Luther trotz seines Ansehens als herausragende und epochemachende prophetische Figur sogar für seine glühendsten Anhänger doch ein Mensch, und als solcher Melanchthon und Brenz näher als Elias und Paulus. Schließlich erwies sich das Korpus der Lutherschriften als zu sperrig. In der Wittenberger Ausgabe füllte es 19 Foliobände. Luthers Bibellehre reifte über die Jahre heran, ihre einzelnen Fassungen waren auf verschiedene Situationen bezogen und besaßen mithin unterschiedliche Schwerpunkte. Das führte dazu, dass der Gelehrte gegen sich selbst zitiert werden konnte, worüber sich beispielsweise Joachim Mörlin (1514–1571) beschwerte, als er an Cyriacus Spangenberg über ihre gemeinsamen Gegner in der Kontroverse über den Gebrauch des menschlichen Willens in der Bekehrung schrieb.46

So hatte auch Johannes Wigand (1523–1587), einer von Luthers treuesten Schülern, noch im Jahre 1569 geschrieben, dass er und seine Kollegen an der Universität Jena sich dem biblischen Wort Gottes auf die Weise verpflichteten, wie es durch die altkirchlichen Bekenntnisse, das Augsburgische Bekenntnis, dessen Apologie, die Schmalkaldischen Artikel und die Schriften Luthers, zusammen mit dem Konfutationsbuch von der herzoglich-sächsischen Regierung von 1558 interpretiert wurde.47 Über ein Jahrzehnt lang hielt er sich bei der autoritativen Auslegung der Schrift an Luther. Dann wurde 1580 das Konkordienbuch zur offiziell anerkannten sekundären Autorität für seine Kirche, und 1582 drückte Wigand nunmehr zwar seinen Respekt für seinen Lehrer, den „heiligen Luther“, aus, schrieb ihm jedoch nicht mehr, wie früher, die Rolle einer Autorität zu.

Luther-Ausgaben

Gleichwohl fuhr Luther durch die Neuauflagen seiner Werke fort, eine gewisse Autorität und sein Lehramt auszuüben. Im Jahr 1539 erschien der erste Band der neuen Gesammelten Werke im Auftrag von Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, herausgegeben von Wittenberger Kollegen des Reformators, angeführt von seinem langjährigen Schreiber Georg Rörer (1492–1557). Er enthielt deutsche Schriften. Luther verfasste ein Vorwort, in dem er Leid und Widerwillen angesichts des ganzen Projekts äußerte, sowie seine Ansicht, dass es besser wäre, wenn alle seine Werke verschwinden würden. Er verachtete die mittelalterliche Abhängigkeit von den Büchermassen der Kirchenväter- und Konzilliteratur und wollte die Leser stattdessen zur Bibel selbst zurückführen.48 Auf das Vorwort Luthers folgte die Einführung zum ersten Band von seinem ehemaligen Studenten Justus Menius (1499–1558), der jetzt Pastor in Eisenach war. Dieser erste Band der insgesamt 19 Bände umfassenden Sammlung beinhaltete Menius’ deutsche Übersetzung von Luthers Galaterkommentar, veröffentlicht im Jahr 1535. Menius lobte weniger seinen Lehrer als vielmehr die Epistel, die dieser kommentiert hatte. Die Widmung seiner Übersetzung an Kurfürst Johann Friedrich feierte dafür Wittenbergs „Schule vnd Kirchen“, aus der die „troestliche heilsame lere des heiligen Euangelij anfenglich auffgangen [war] vnd vnser lieber HErr Jhesus Christus sein allerheiligsts Gnadenreich in so schoenen friede/ gutter ordnung/ auffs allerseligst gepflantzt hat/ beget vnd zieret“. Nach Menius’ Meinung war die Stadt „ein schoener/ heilsamer/ wolriechender Balsamgarte/ nu auch in andere Fuerstenthum/ ja auch in frembden Nation vnd gewaltige Koenigreichen vnd Lendern vnzeliche viel armer elender gewissen […] gelabet vnd erquicket werden“ und ihnen „ein rechter guter Geruch/ des lebens zum leben“ vermittelt.49 Das reichte. 1539 war die Lehre wichtiger als der Lehrer und Luthers Kommentar über den Galaterbrief lieferte in den Augen seiner Schüler eine Kurzfassung der Wittenberger Theologie.

Im ersten Band der Ausgabe seiner lateinischen Werke, der 1545 erschien, ruft Luther die Jahre der frühen Reformation bis 1520 als Hilfe für den Leser zum Verstehen des Kontextes, in dem er geschrieben hatte, in Erinnerung.50 In einem zweiten Vorwort wendet sich auch Melanchthon an die Leser. Er vergleicht seinen Mitstreiter mit Schriftgelehrten aus allen Zeiten, angefangen bei Noah, Moses, Samuel, David, Elias, Elischa, Jesaja, Jeremias, Daniel, Zacharias über Johannes den Täufer, Jesus Christus und die Apostel bis hin zu Polykarp, Irenaeus, Athanasius, Augustinus und Prosper. Gott habe Luther gesandt, um die „wahre, reine und sichere Lehre“ über die Buße ebenso wie über die Glaubensgerechtigkeit, die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium und zwischen wahrer und falscher Anbetung sowie über den richtigen Gebrauch der Sakramente wiederherzustellen.51 Auch wenn die Person Luthers als Kämpfer gegen die mittelalterlichen Irrtümer Erwähnung fand, so konzentrierte sich Melanchthons Lob seines Mitstreiters auf dessen Lehre. Der zweite Band der lateinischen Werke erschien 1546 zusammen mit Melanchthons ausgedehnten Überlegungen zur Bedeutung von Leben und Werk seines (zu dieser Zeit bereits verstorbenen) Kollegen.52 Sie folgten weitgehend den klassischen rhetorischen Regeln für die Lobrede auf eine Person, zeichneten seine Biographie skizzenhaft nach und brachten jene Dinge zur Sprache, die erwähnt werden mussten, um Luthers Bedeutung zu vermitteln. Besondere Aufmerksamkeit schenkte Melanchthon Luthers Lehre über Buße, Sündenvergebung, Glaube und Trost unter dem Kreuz des täglichen Lebens, seiner Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und seinen Griechisch- und Hebräischkenntnissen. Er dankte Gott dafür, dass Luther die Kirche zurück zur reinen Lehre geführt hatte, die aus dem Quell des Evangeliums Jesu Christi floss. Das Lutherbild Melanchthons spiegelt den Wert und die Bedeutung von Luthers Lehre auf der Grundlage der Heiligen Schrift.

Inmitten der Kontroversen um Luthers und Melanchthons Erbe in den 1550er und 1560er Jahren erschien zwischen 1555 und 1558 eine Konkurrenz-Ausgabe in Jena.53 Erneut übernahm Georg Rörer die Herausgeberschaft. Seine Erfahrungen bei der Wittenberger Ausgabe und die Texte, die sie bereits zugänglich gemacht hatte, erleichterten die Arbeit. Nikolaus von Amsdorf, Luthers Freund aus seinen ersten Jahren in Wittenberg, schrieb dazu das Vorwort, in dem er abgesehen von Gottes Verwendung Luthers für die Errettung der Kirche „aus der grewlichen vnd schrecklichen finsternis der Babylonischen gefengnis/ des Roemischen stuels“ wiederum wenig über Luther selbst sagte.54 Der Inhalt seiner Schriften sei ein „thewer/ grosser vnd aussprechlicher Schatz“, seine Person wurde offensichtlich mit großem Respekt, aber wenig Glorifizierung behandelt.55

Johannes Aurifaber (1514–1559), Amsdorfs jüngerer Freund und ein weiterer Schreiber Luthers, brachte mehrere Supplementbände mit unveröffentlichtem Luthermaterial heraus. Aus seiner Sammlung von Lutherhandschriften gingen zwei Bände mit lateinischen Briefen hervor, der erste erschien 1556, der zweite 1565.56 Seine Sammlung deutscher Manuskripte und Einblattdrucke, die nicht für die Ausgaben von Wittenberg oder Jena ediert worden waren, erschien in zwei Teilen 1564 und 1565 (einschließlich einiger weniger, bereits in der Wittenberger Ausgabe erschienener Schriften).57 1566 veröffentlichte er schließlich eine Edition von Luthers Tischreden, die er als Herausgeber allerdings etwas willkürlich zusammengestellt hatte.58

Das nächste Unternehmen einer Luther-Gesamtausgabe in Deutsch fand in den Jahren 1661 bis 1664 in Altenburg statt. Johann Christfried Sagittarius (1617–1689), Generalsuperintendent und Hofprediger in Altenburg, widmete das Werk Friedrich Wilhelm II. (1603–1669), dem Herzog von Sachsen-Altenburg, wobei er – ohne besondere Verherrlichung Luthers – die Unterstützung der ernestinischen Vorfahren des Herzogs für die Reformation lobte. In seiner Ansprache an den „Christlichen Leser“ erklärte Sagittarius, wie er bei dieser Ausgabe vorgegangen war – wieder ohne spezifisches Augenmerk auf Luther. Sein Anliegen war es, den Inhalt der Schriften des Reformators zu vermitteln. Als der Verleger Johann Heinrich Zedler (1706–1751) im Jahre 1729 seine eigene Ausgabe in Leipzig veröffentlichte, gab er ihr eine Einleitung von Christian Friedrich Börner (1683–1753) bei, in der dieser die Wichtigkeit betonte, die Werke von „dem auserwehlten Ruestzeuge GOttes, dem sel. D. Martin Luther“ zu lesen, der „heldenmuethig“ die Reformation eingeleitet habe. Denn „dieser grosse, und mit unvergleichlichen Gaben des Geistes ausgezierte Lehrer“ habe „zur Ehre GOttes, und seines heiligen Wortes, zur Bestaetigung und Vertheidigung der Evangelischen Wahrheit, und zum Nutzen und Erbauung, der Kirche Christi“ die Bibelauslegungen gegeben, die weiterhin für alle Leser nützlich und ertragreich seien.59

Luther-Biographik: Schmähungen und Lobpreisungen

Nicht alle Anhänger Luthers blieben seiner Botschaft treu.60 Thomas Müntzer (1489–1525) etwa zeichnete ein Bild Luthers als das Gaistloße Sanfft lebende fleysch ad Wittenberg, das den heiligen Geist verloren habe.61 Andere, die sich für Reformen in Anlehnung an Luther eingesetzt hatten, schwenkten auf die römische Linie zurück. Als Georg Witzel (1501–1573) in mehreren Schriften Luthers Lehre bemängelte, erntete er für seinen Treuebruch erbitterte Kritik von den Wittenberger Theologen, insbesondere von Justus Jonas (1493–1555). Auch Friedrich Staphylus (1512–1564) wurden ähnliche Vorwürfe gemacht, als er in den 1550er Jahren Wittenberg den Rücken kehrte.

Protestanten der nächsten Generation, die zwar mit Luthers Rechtfertigungslehre einverstanden waren, nicht aber mit seinem Verständnis der Realpräsenz Christi im Abendmahl, kritisierten die Stellung, die Luther unter seinen Anhängern innehatte. Als der Abendmahlstreit zwischen den lutherischen Theologen in Württemberg und ihren reformierten Nachbarn in der Pfalz und in Zürich 1564 offen ausbrach, stellte Heinrich Bullinger (1504–1575) die Luther von seinen Schülern zugeschriebene Autorität in Frage.62 Der Jurist Christoph Herdesianus (1523–1585), der seine Studien 1540 in Wittenberg begonnen und sich in den 1560er Jahren mit den „Krypto-Philippisten“ verbündet hatte, die Luthers Abendmahlslehre auszusetzen versuchten, verfasste mehrere pseudonyme Kritiken des Abendmahlartikels in der Konkordienformel, in denen er auch die Bewertung Luthers und seiner Autorität in diesem Artikel diskutierte.63 Im folgenden Jahr antwortete darauf Nikolaus Selnecker (1530–1592).64 Aus der Pfalz kam von Zacharias Ursinus (1534–1583) sowohl eine Anfechtung der Konkordienformel als auch der Ausdruck von Wertschätzung Luthers.65 Der Bremer Pastor und vormalige Heidelberger Professor Johannes Lampadius (1569–1621) wiederum fuhr für die Mitglieder der reformierten Kreise damit fort, in seinem Mellificum historicum integrum Luthers Autorität und die Bedeutung seiner Rolle zu Beginn der Reformation zu untergraben.66

Die Lutheraner des 16. und 17. Jahrhunderts leisteten keinen bedeutenden Beitrag zur Gattung der „Lebensbeschreibungen“ – mit der Ausnahme Luthers.67 Die genaue Gattung, der diese frühen Berichte über Luthers Werdegang am ehesten zuzuordnen wären, ist nicht einfach zu bestimmen. Die Ursprünge von Luthers Biographik liegen wohl nicht bei seinen Anhängern, sondern vielmehr in der polemischen Vita von Johannes Cochlaeus (1479–1552) begründet, einem seiner erbittertsten Gegner. Bereits 1529 vermehrte Cochlaeus seine bis dahin veröffentlichten Kritiken von Luthers Lehre um die Abhandlung über den „sieben-köpfigen Luther“ (Kat. Nr. 22). Darin diffamierte er die Ideen des Reformators und gab sich verzweifelt angesichts von Wirkung und Charakter Luthers. Cochlaeus legte sie unter das Vergrößerungsglas seiner scholastischen Denkart und formulierte seine Ängste, dass Luthers Denkweise sowohl Kirche als auch Gesellschaft zerstören würde.68 1549 wandte sich Cochlaeus der Gattung der polemischen Biographie zu, um seinen Kampf gegen Luthers Ideen mit der Diskreditierung von dessen moralischen Charakters und theologischer Kompetenz weiterzuführen. Manche Geschichten über Luther dachte er sich aus, andere schöpfte er aus der Gerüchteküche jener Tage und vermischte selbst präzise Berichte mit bitteren Invektiven und unflätigen Schmähungen Luthers, seiner Freunde und insbesondere seiner Frau, der abtrünnigen Nonne. Cochlaeus beschrieb das Paar als

Monacho Monialis, perfido perfida, flagicioso flagiciosa – für den Mönch eine Nonne, für den Treulosen eine Treulose, für den Schändlichen eine Schändliche.69

In den Worten des römisch-katholischen Kirchenhistorikers Herbert Immenkötter sollte dieses Werk „einen tief abschreckenden Gesamteindruck vom Leben und Werk des Reformators vermitteln“, Cochlaeus entwarf Adolf Herte zufolge ein „ausgesprochenes Kampfbild, das Zorn, Haß und Empörung gegen Luther atmet“.70 Immenkötter ist der Meinung, dass Cochlaeus das zwischen 1532 und 1535 entstandene Manuskript ursprünglich in der Annahme verfasst hatte, Luthers Anhänger könnten auf dem Konzil erscheinen, das Papst Paul III. (1468–1549) nach Mantua einberufen wollte. Der Papst hatte Ende 1534 zum ersten Mal seine Absicht geäußert, ein Konzil abzuhalten, was den möglichen Zeitpunkt der ursprünglichen Abfassung tatsächlich entsprechend eingrenzen würde. Es ist aber ebenso möglich, dass es sich dabei auch nur um ein weiteres Werk handelt, in dem sich Cochlaeus’ generelle Befürchtungen vor den Folgen von Luthers Ruf nach Reformen niedergeschlagen haben.

Die Einführung der Biographie als einer weiteren Form der Polemik, die Cochlaeus und eine Reihe von Gleichgesinnten seit den späten 1510er Jahren praktizierten, riefen Entgegnungen von Luthers Anhängern auf den Plan. Doch diese Biographien griffen weder Cochlaeus direkt an, noch gingen sie auf allgemeinere Kritik an Luther ein. In den Darstellungen von Luthers Leben blieb die Verteidigung implizit. Sie nahmen die Form einer Art von Erbauungsliteratur an, indem sie zeigten, wie Gott im 16. Jahrhundert der Christenheit durch Luther das Licht des Evangeliums gebracht hatte, und präsentierten Luther und seine Mitstreiter als Vorbilder für den christlichen Lebenswandel, insbesondere für den Prediger und Verkünder des Gottesworts. Ihre in der melanchthonianischen Methode versierten Verfasser bedienten sich rhetorischer Formen aus dem humanistischen Repertoire, etwa der Laudatio. Dabei wurden allerdings gewisse Elemente der humanistischen Eloge ausgelassen, und die Würdigung von Luthers Leistungen wandelte sich in eine Lobpreisung Gottes, der den Hochschullehrer zu seinem Werkzeug gemacht hatte. Wolfgang Herrmanns Urteil, Luthers Zeitgenossen hätten ihn in die Kategorie eines mittelalterlichen Heiligen eingeordnet, ist nur zum Teil zutreffend. Begründen lässt es sich mit Spangenbergs Kommentaren zu seinen eigenen Predigten über Luthers Leben.71 Allerdings fehlen grundlegende Elemente der typischen Heiligenlegende – dass Luther phantastische Wunder in der Art der mittelalterlichen legenda bewirkt habe, behaupteten erst sehr viel spätere Geschichten. Luther wurde von seinen Biographen sehr bewundert, aber seine Anhänger verehrten ihn keineswegs deshalb, weil sie dachten, dass sie dann dank seiner Macht mit göttlicher Intervention und Vorteilen im täglichen Leben rechnen konnten. Mit den von ihnen gepriesenen ‚Wundern‘ meinten sie vielmehr Luthers Herausforderung der päpstlichen Kirchenkontrolle, und dass es ihm gelungen war, so viele Anhänger für das Evangelium zu gewinnen.

Heidemarie Gruppe dokumentiert 139 Luther-Legenden, die im 19. Jahrhundert kursierten. Die größte Einzelgruppe sind Geschichten, die Luther mit einem bestimmten Ort verbinden: die Gattung der ‚Luther weilte bei uns‘-Geschichten, die erklären, warum ein Baum oder eine Quelle im Ort nach Luther benannt worden war. Andere Luthererzählungen präsentieren ihn als ‚Mann des Volkes‘ und schildern beispielsweise seine Gespräche mit einem Wittenberger Metzger, der ihn mit den passenden deutschen Ausdrücken für die Übersetzung der Tierteile aus dem Hebräischen versorgte, die in den Opfer-Anleitungen im Leviticus beschrieben wurden. Andere wiederum berichten, dass Luther in seiner Freizeit gerne drechselte. Luthers Macht kommt in diesen Legenden zum Ausdruck, wenn seine Predigten oder Gebete etwas Ungewöhnliches vollbrachten: Tatsächlich aber handelt es sich um Erzählungen über die Macht Gottes, der Luther als sein Instrument benutzte. Geschichten, die ihm magische Kräfte zuschreiben, etwa die Macht, Feuer zu löschen, Regen zu verursachen oder zu beenden, wie es die Heiligen der mittelalterlichen Frömmigkeit vermochten, waren im Vergleich zu den Erzählungen über seine mittels Gotteswort ausgeübte spirituelle Macht überaus selten. Die meisten von ihnen entstanden erst nach 1600.72 In der volkstümlichen Vorstellung konnte Luther mitunter fast übermenschliche Züge annehmen, überwiegend blieb er aber im Rahmen des Normalmenschlichen.

Die ersten posthumen Beschreibungen von Luthers Leben entstanden anlässlich seines Todes. Justus Jonas verfasste einen schlichten und sachlichen Bericht von Luthers Sterbestunde, der die Öffentlichkeit davon überzeugen sollte, dass die Anwesenden dessen Glaubensbekenntnis gehört hatten und er einen seligen Tod gestorben war (Abb. 4 und 5).73

Abb. 4
Abb. 4 Justus Jonas: Vom Christlichen abschied aus diesem toedlichen leben des Ehrwirdigen D. Martini Lutheri, Wittenberg: Georg Rhau 1546, Titelblatt und verso Titelblatt. HAB: Yv 2069.8° Helmst. (1)
Abb. 5
Abb. 5 Justus Jonas: Vom Christlichen abschied aus diesem toedlichen leben des Ehrwirdigen D. Martini Lutheri, Wittenberg: Georg Rhau 1546, Titelblatt und verso Titelblatt. HAB: Yv 2069.8° Helmst. (1)

Beim Begräbnisgottesdienst bezeichnete Johannes Bugenhagen (1485–1558) in seiner Predigt Luther als „[d] iesen hohen Lerer vnd Propheten/ vnd von Gott gesandten Reformatorn der Kirchen“ und als Engel der Apokalypse.74 In gutem humanistischen Stil hebt Melanchthons Leichenrede die Höhepunkte im Leben seines Mitstreiters hervor und vermittelt ebenso einen Eindruck von ihrer beiden Beziehung wie von Luthers Werdegang. Melanchthon stellt ihn dabei in eine Reihe mit den prophetischen Äußerungen von Jesaja, Johannes den Täufer, Paulus und Augustinus.75

Johannes Pollicarius (1524–1584), ein ehemaliger gemeinsamer Student, stellte in nur etwas über einem Jahr Melanchthons Leichenrede, dessen Lutherbiographie aus dem zweiten Band der lateinischen Werke der Wittenberger Ausgabe sowie andere Schilderungen von Luthers Leben zusammen.76 Timothy Wengert bemerkt dazu, dass diese Sammlung die Hauptthemen der späteren Lutherforschung vorwegnimmt: eine Konzentration auf die frühen Jahre seines Werdegangs, Luthers Betonung der Rechtfertigung allein durch den Glauben, die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium sowie die „portrayals of Luther as ‚prophet, teacher and/or hero‘ – to say nothing of the angel of the Apocalypse“77 – und als Bekenner: allesamt Beschreibungen, die hier älteren Darstellungen des Wittenberger Professors entliehen waren. Wengert zeigt, dass diese biographischen Erinnerungen an Luther die Integrität und den christlichen Charakter des Mannes und die lebensspendende Bedeutung seiner Botschaft bestätigen sollten, genauso wie seinen frommen und seligen Tod. Vor allem in Melanchthons Bericht war die eschatologische Bedeutung Luthers mit einer Art „Miniatur-Ekklesiologie“ verwoben.78 Matthias Ritter (1526–1588), Pastor in Frankfurt am Main, veröffentlichte 1554 eine um zusätzliches Material wie etwa Bugenhagens Leichenpredigt erweiterte deutsche Übersetzung der Sammelschrift von Pollicarius, die wie auch die lateinische Fassung mehrere Auflagen erlebte.79

Das nächste Unternehmen einer Chronik von Luthers Leben bildete eine Literärgeschichte, die in weiten Teilen aus Exzerpten aus Luthers Schriften bestand sowie aus kurzen biographischen Erzählungen, die von einem Werk zum nächsten überleiteten. Ihr Verfasser, Ludwig Rabus (1523–1592), hatte von 1541 bis 1543 in Wittenberg studiert. Nachdem er kurz in seiner Heimatstadt Memmingen Dienst getan hatte, folgte er einem Ruf nach Straßburg, wo er eine Pastorenstelle innehatte, als die Truppen Kaiser Karls V. der Stadt das rekatholisierende Augsburger Interim aufzwangen und Rabus sowie einige andere evangelische Pastoren ihrer Ämter enthoben wurden. In der Zeit, die Rabus nun zur Verfügung hatte, verfasste er die erste protestantische Sammlung von Märtyrergeschichten und weitete sie in den Jahren zwischen 1552 und 1558 schrittweise aus. Der vierte Band seiner Historien Der Heyligen Außerwoelten Gottes Zeügen/ Bekennern vnnd Martyrern erschien 1556; ihre insgesamt 295 Quartblätter umfassen zum einen kürzere Berichte von Hieronymus Savonarola, Jacob Probst und Patrick Hamilton, zum anderen auf immerhin 244 Seiten das Zeugnis, das Luther in seinen Schriften gegeben hatte.80

Obwohl die meisten der von ihm behandelten Personen wegen ihres Bekenntnisses zu Jesus Christus durch feindliche Hände gestorben waren, zählte Rabus auch Luther unter seine Zeugen, Bekenner und Martyrer, weil er Luthers Ansicht darüber folgte, was einen Märtyrer ausmachte: eben nicht wie noch aus mittelalterlicher Sicht das mutige Selbstopfer, sondern die Zeugenschaft der Wahrheit, die Tod oder zumindest Verfolgung und Anfeindung mit sich brachte. So verfasste Rabus

[d]ie Hystory vom Leben/ Sterben/ vnd sonderlich von vilfaltigem kampff vnd streyt/ so der Ehrwürdige/ Hocherleüchte vnd rechte Gottes Mann/ Doctor Martin Luther/ seeliger vnd heyliger gedaechtnuß/ vmb der Bekantnuß willen Euangelischer warheyt/ durch Gottes gnaedigen beystandt/ bestaendigklichen außgestanden hat.81

Für Rabus übernahm Luther die Rolle „vnsers lieben Vatters vnd Propheten Teütscher Nation“.82 Auch Rabus gebrauchte prophetische Bezeichnungen, Luther sei „der ware/ dritte vnd letste Elias“, und er erkannte „ein sondern hohen Prophetischen vnnd Apostolischen Geyst“ bei Luther, der Gott als „gefelligen werckzeüg“ diente. Vor allem aber sollte Luther den Predigern Vorbild sein, „ein Christlich Exempel/ das sie in jrem Ampt/ durch welches sie des Teüffels vnnd aller Welt feindtschafft auff sich laden muessen/ mit einfaltigem aug vnnd vnerschrockenem hertzen/ alleyn auff jhn/ jren eynigen Gott/ Vatter/ Schützer/ vnd Erloeser sehen sollen“.83

Allgemein stellte er Luther als Schriftgelehrten und als Bekenner des Glaubens an Jesus Christus dar. Seine Konflikte mit dem Papsttum seien entstanden, weil „man allen denen so in H. Schrifften Doctor werden/ mit dem Eydt aufferlegt/ die warheyt frey zubekennen vnd zulehren“, und Luther „auß krafft seines Eydts/ den er im Doctorat gethon/ fürgenommen habe“.84 Rabus erklärte, dass Luther mit seiner Kritik der mittelalterlichen Frömmigkeit und der päpstlichen Macht nichts anderes beabsichtigt habe, „dann allein die warheyt der H. Goettlichen Schrifft an tag zubringen/ vnd die verwirrten gewissen zuunderichten“.85 Die „eynfeltigen Gleübigen“ und „kinder in Christo“ müssen anerkennen, „das D. Luther ein Engel sey des lebendigen Gottes/ der die Irrenden Schaaffe weyden soll/ allein mit dem Wort der Warheyt“.86

Rabus’ Bericht über Luthers Erscheinen vor Karl V. in Worms umfasst auch dessen abschließende Ansprache an den Reichstag und seinen Ausspruch „Hie stehe ich/ Ich kan nicht anders, Got hulffe mir Amen.“ Rabus zitiert diese Worte in seinem Text, sie finden sich aber auch auf einem beigefügten Holzschnitt gekritzelt, der Luther vor dem Kaiser zeigt, womit Rabus seine Behauptung unterstreicht, dass Luther in der Tat ein Zeuge oder „Märtyrer“ der Wahrheit des Evangeliums war (Abb. 6).87

Abb. 6
Abb. 6 Ludwig Rabus: Der Heyligen Außerwoelten Gottes Zeügen/ Bekennern vnnd Martyrern, Tl. 4, Straßburg: Samuel Emmel 1556, S.Ixxv. HAB: H: S 147.4° Helmst. (2)

Gleichwohl war Luther, das stellte Rabus ebenfalls klar, ein „vnderthenigst vnd demuetigst“ Subjekt des Kaisers.88 Rabus’ Sammlung umfasst ein großes Spektrum von Beiträgen Luthers, etwa zur Förderung der Bildung,89 doch konzentriert sie sich auf theologische Themen und auf Exempel für die Seelsorge aus seiner Erbauungsliteratur und seinen Briefen, darunter auch Luthers Briefe an seinen Vater und seine Mutter aus der Zeit, als diese im Sterben lagen.90

Johannes Mathesius (1504–1565) gilt als erster ‚einfühlsamer‘ Biograph, da er wesentlich mehr tat, als nur lange Zitate Luthers aneinanderzureihen. Er hatte selbst in Luthers Kloster gelebt und während seiner Aufenthalte in Wittenberg von 1529 bis 1530 und von 1540 bis 1542 an dessen Tisch gegessen, bevor er schließlich seine Erinnerungen an seinen Mentor aufzeichnete, die später in Aurifabers Tischreden erschienen.91 Sein Bericht über Luthers Leben besteht aus siebzehn Predigten, die er in Joachimsthal (heute Jáchymov) gehalten hatte, einer kurz zuvor gegründeten Bergbaustadt in Böhmen, die etwa hundert Kilometer südlich von Dresden gelegen ist. In diesen Predigten erinnerte er seine Zuhörer immer wieder daran, dass auch Luther, „eines Bergmans Son“, aus einer Familie von Bergleuten stammte.92 Mathesius stellt Luther in verschiedenen Rollen dar, um den Lesern die Einordnung des Reformators in die Kirchengeschichte zu erleichtern. Eine wichtige Rolle spielt bei Mathesius das Bild Luthers als „Seelsorger“, wie Ernst Walter Zeeden hervorhebt.93 Wohl noch prominenter ist in seinem Bericht indes das Motiv des „Propheten“ und „Kirchenlehrers“. Mathesius wiederholt diese Bezeichnungen zwar nicht häufig, stellt aber entsprechende Berichte anderer und seine eigenen detailreichen Erinnerungen zusammen, um die Geschichte eines Mannes zu erzählen, den er als herausragende Figur der Menschheitsgeschichte ansah. Seine Predigten hatten ihre Wurzeln in seiner Zeit an Luthers Tafel:

Denn wie sein ampt vnd Lere heilig vnd troestlich war/ also sahe man auch in seinem leben vil schoener vnd grosser tugend/ vnnd die vmb jn waren/ hoereten vil gutter Sprueche vnd Historien/ wie er auch am Tisch viel schoner koestlicher Tet erkleret/ vnd vil gutes berichts gefiel/ wenn man nach gelegenheit etwas auß der Schrifft zu fragen hatte.94

Mathesius erkannte, dass eine neue Generation nachgewachsen war, die das Fehlen des Lichts des Evangeliums der freien Vergebung der Sünden im „babylonischen gefengnus“ des Papsttums nicht selbst erfahren hatte, und wollte deswegen seine Zuhörer daran erinnern, dass es Gott war, der Deutschland „disen Wundermann“ gegeben hatte, diesen „werden Deutschen Propheten“.95 Da er in einem Grenzgebiet der deutschen Sprache lebte, war es Mathesius besonders wichtig zu betonen, dass Luther zuallererst den Deutschen als Geschenk gegeben worden war.96 Mathesius glaubte daran, dass Gott sein Wort in dieser Zeit geoffenbart hatte, genauso wie er es früher durch Elias, Jonas und Daniel getan hatte.97 Hatte doch „der theure Merterer auß Behem/ M. Johann Huß“, der für seine Zeugenschaft der göttlichen Wahrheit gestorben war, Luthers Ankunft prophezeit.98 Mathesius’ Bericht zeichnete außerdem Luthers offenen Konflikt mit jenen nach, die ihn am liebsten sofort wie Hus verbrannt hätten. Er listete die Feinde seines Mentors auf, den Papst, dessen scholastische Theologen, die ihn unterstützenden Herrscher, die abtrünnig gewordenen Anhänger Luthers – und hinter allen: Satan. Ihnen gegenüber stand Luther „wie ein Ritter vnd Kriegsmann Gottes/ vnd solennis Doctor Theologie“, der sich „wie ein Christlicher Held“ wehrt.99 Ihre Feindschaft erwuchs aus Luthers „leren/ lesen/ predigen/ schreiben/ im namen Christi vnd seinem wort“.100 Er war „ein Christlicher Doctor vnnd ordenlicher Professor vnnd Dolmetsch der loeblichen Vniuersitet/ vnd beruffner ecclesiastes vnd Prediger der Kirchen zu Wittenberg“,101 und er

ruffet die leut zur rechten busse/ leret was suenden sold ist/ bezeuget/ daß das blut Jesu Christi/ die einige abwaschung vnnd bezalung fuer den gantzen Welt suende ist/ vermanet vnnd treibet auff ein gut gewissen/ rechten glauben/ der durch die liebe krefftig ist/ vnd sich sehen vnd mercken lesset. Item/ vermanet zur vnterthenigkeit vnd gehorsam/ verwarnet vor falscher Lere der Muenche vnd der Schleicher/ so schon vom muendlichen wort abfielen/ vnd sich auf jren Geist vnd treume berieffen. Item/ er warnet vor den Bildstuermern vnd Patronen der Fleischelichen freyheit/ der etliche alle Weltliche Recht vnnd eusserliche zucht inn Policien vnnd Kirchen anfochten vnnd auffhuben.102

Eike Wolgasts Beobachtung, dass Mathesius das Bild eines psychisch unbeweglichen Luthers zeichnet, ist zwar richtig,103 doch Mathesius musste das robuste Wesen der Persönlichkeit und Wärme der persönlichen Beziehungen Luthers schildern, ohne dass ihm moderne psychologische Theorien zur Verfügung gestanden hätten, die ihm eine solche Art der Analyse ermöglicht hätten. Mathesius’ Lutherbild umfasst mehr als nur einfach das Leben als Prophet und Held. Eine ganze Predigt befasst sich mit Luthers Gebrauch der Äsopischen Fabeln; Mathesius hatte ganz offensichtlich Zugang zu der unveröffentlichten Handschrift, die sein Mentor während seines Aufenthalts auf der Coburg im Jahre 1530 angefertigt hatte. Diese neunte Lutherpredigt nennt Beispiele, wie Luther die Fabeln in seiner Lehre und seinen Predigten benutzte.104 Mathesius selbst hatte Luther als Lehrer von Pastoren und Schulmeistern an seinem Tisch erlebt und berichtet, dass Luther einst gesagt habe:

In Schulen gehe es hin/ das man disputire/ vnnd was scharpffes fuergebe/ die Widersacher zuuerlegen/ Auf der Cantzel sind das die besten Prediger/ die pueriliter, triuialiter, populariter vnd simplicissimè reden/ nicht vil frembde fragen/ vnnd der widersacher Argument regen vnnd widerlegen/ auch nicht auff abwesende Obrigkeiten/ oder Muench vnnd Pfaffen schelten/ vnd jren widerparten oder abguenstigen ein schmitz oder Rhur geben. In Kirchen gibt man praesentes, in Schulen lase man etwan absentes.105

Auch hatte Mathesius Luther als Schriftgelehrten erfahren: „Ein alter Prediger sol nur ein Buch haben/ das heist die Biblia/ denn das ist der Brunn/ Alle andere buecher sindt nur flueßlein/ Auff der Biblia kan man sicher vnd gewiß stehen/ mit der Biblia kan man Teufel vnnd Ketzer verjagen.“106 Mathesius betont die Leistung von Luthers Bibelübersetzung und beschreibt die Gemeinschaftssitzungen, in denen das Wittenberger Team das Original-Hebräisch und ‑Griechisch ins Deutsche übertrug.107

Andreas Musculus (1514–1581), der Luther 1538 bis 1542 während seines Studiums in Wittenberg selbst erlebt hatte, später einem Ruf nach Frankfurt an der Oder als Pastor und Hochschullehrer an der dortigen Universität gefolgt war und 1561 die Superintendentur der kurbrandenburgischen Kirchen übernommen hatte, verfasste zwar keine Biographie Luthers, betont aber in anderen Schriften dessen Rolle als neuer Elias. Luther erfüllte demnach die Prophezeiung von Mal 4,5 als derjenige, der wie Johannes der Täufer den Aufruf zur Buße wiederholte und Gottes Befreiung von der Tyrannei ankündigte, wie es Elias zum ersten Mal getan hatte. Musculus folgerte, dass Luthers Kampf gegen das Papsttum dem Vorbild von Elias’ Kampf gegen die Priester von Baal (1 Kön 17–22) folgte.108 Luthers Rolle als Prophet bedeutete in der Sichtweise des Musculus, dass er die Wahrheit Gottes lehrte. 1573 veröffentlichte Musculus ein Lehrbuch der biblischen Lehre in dem Stil, den er bei Melanchthon gelernt hatte: Unter einzelnen Topoi (loci communes) ordnete er Zitate aus der Schrift an, die dem Leser beim Predigen und Unterrichten halfen. Neben die Bibeltexte setzte Musculus Zitate aus den antiken Kirchenvätern und Schriften Luthers; dabei erinnert er daran, dass seine eigene Lehre auf seinen Erinnerungen an Luthers Vorlesungen sowie auf seiner Lektüre der Schriften seines Professors gründete.109 Andere stellten Luther als Propheten dar, indem sie Textstellen sammelten, die in die Zukunft wiesen. Das waren allerdings keine Voraussagen konkreter Ereignisse, sondern Aufrufe zur Buße, um das drohende Gottesurteil von Deutschland abzuwenden. Aus evangelischer Perspektive gaben ihm die Ereignisse rund um den Schmalkaldischen Krieg Recht. Mithin dienten diese Sammlungen in erster Linie dazu, auch die jüngere Generation zur Buße zu rufen.110

Die dritte der größeren Arbeiten, in der Luther in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einer neuen Generation vorgestellt wurde, stammt aus der Feder seines ihm treu ergebenen Schülers Cyriacus Spangenberg, der Luther neben Jesus Christus, Jesaja und Paulus wie auch auf die gleiche Ebene mit Johannes Brenz und Urbanus Rhegius stellt.111 Spangenberg behauptet, dass er selber Gottes Wort „rein lauter vnd vnverfelscht gepredigt [hatte], wie ichs 5 Jahr lang aus des seligen Dr. Luthers, meines einigen praeceptoris heiligen mund, predigten, lectionibus vnd gesprechen selbst gehört vnd in seinen werthen schriften hernachmals gefunden vnd noch teglich lese“.112

In seinem Wahrhafftige[n] Bericht von den wolthaten/ die Gott durch Martin Luther seligen/ fuernemlich Deutschland erzeigt fordert Spangenberg 1561, man solle die Schriften seines ehemaligen Gastgebers und Lehrers „einen werden von Gott beschereten Schatz/ beyneben der heiligen Bibel/ in allen Ehren halte/ wol auffhebe/ beware/ vnd durch den Druck one zusatz/ abbruch/ verkerung oder einmischung anderer Schrifften/ auff die nachkomen bringe“,113 weil Luther

so gar gut Apostolisch redet/ vnd allenthalben den lieben Christum zeiget/ vnd den rechten weg zum Himel weiset. […] Das seine Theologia vnd Schrifften billich vnd wol moegen Dauids Schlauder/ Pauli Mund/ Johannes Finger/ Petri Schluessel/ vnd des heiligen Geistes Schwerdt genennet werden. Summa er hat den lieben Paulum/ der solch hoch zeugnis von Gott bekomen/ also gewaltiglich innen/ das aus Luthero eitel Paulus gehoeret wird.114

Die überwältigende Persönlichkeit seines Lehrers hatte den Studenten tief beeindruckt, aber am Ende ging es um die Lehre, die er vermittelt hatte, obwohl es für Spangenberg nicht mehr möglich war, Lehre von Lehrer zu trennen.

Dies wird deutlich in den Predigten, die Spangenberg zwischen dem 11. November 1562 und dem 11. November 1573 an den jährlichen Geburts- bzw. Tauf- (10. und 11. November) und Todestagen (18. Februar) Luthers hielt. Die letzten acht seiner einundzwanzig „Lutherpredigten“ benutzen Bilder aus der Welt des Bergbaus, der die Lebensgrundlage der Gemeinde in Mansfeld bildete, in der er predigte. Die ersten dreizehn Predigten kreisen thematisch um einzelne biblische Motive oder Figuren, anhand derer Spangenberg Aspekte von Luthers Denken und Leben darstellt, etwa „Prophet und Elias“, „Apostel“, „Paulus“, „der Evangelist Johannes“, „der Engel des Herrn“, „Märtyrer“ und „Gottes Pilger“. Im Jahr 1589 wurden diese Predigten vom Drucker Nikolaus Heinrich in Ursel in einem Band versammelt und unter dem Titel Theander Luther veröffentlicht (Abb. 7).115

Abb. 7
Abb. 7 Cyriacus Spangenberg: Theander Lutherus. Ursel: Nikolaus Henricus [1589], Titelblatt, HAB: S: Alv.: Dm 224

Der Gebrauch von polemischen Biographien zur Diskreditierung Luthers endete nicht mit Cochlaeus. Mathesius’ und Spangenbergs Schriften provozierten weitere Repliken. Cochlaeus’ Text begründete eine Luther-Interpretation, die bis ins 20. Jahrhundert wiederholt wurde.116 Mehr als zwanzig kleine Proteststürme wüteten in dem auf die Veröffentlichung des Cochlaeus folgenden Jahrhundert zwischen den römisch-katholischen Kritikern (oftmals Konvertiten) und den protestantischen Verteidigern Luthers. Diese Angriffe nahmen weniger Aspekte von Luthers Theologie ins Visier, mit denen sich vorwiegend die ernsthafteren dogmatischen Werke in kritischer Absicht befassten, als vielmehr dessen moralischen Fehler und verachtungswürdigen Charakter. Ein Beispiel dafür mag genügen: Der in Ingolstadt lehrende Jesuit Conrad Vetter (1546–1622) veröffentlichte unter dem Pseudonym „Conrad Andreae“ satirische Angriffe auf Luther und behauptete, der Bruder von Jakob Andreae (1528–1590) zu sein, seines lutherischen Gegenspielers aus Tübingen (Abb. 8).

Abb. 8
Abb. 8 Conrad Vetter: Der Vnschuldige Luther, Ingolstadt: Wolfgang Eder 1594, verso Titelblatt. HAB: A:110 Quod. (1)

Vetter zitierte Stellen aus Schriften Luthers und dessen Schüler manchmal korrekt, manchmal aber aus dem Kontext gerissen, um Arroganz und Dummheit der Wittenberger vorzuführen.117 So notierte er etwa, Luther habe in seinen Tischreden gesagt, dass „die schaendliche Hoffart vnd Ehrsucht“ „ein Mutter aller Ketzereyen“ sei.118 Vetter zufolge sei „doch kein ehrgeitziger/ hoffertiger/ rhuemsichtiger/ praechtiger/ stoltzer/ auffgeblaßner/ hiperbolischer/ vnd hochtrabender Mensch auff Erden kommen/ als eben diser/ Kutt: vnd Gottvergeßne Moench/ Martin Luther selbst“.119 Er stellte Luthers kritische Anmerkungen zum Kaiser und zur deutschen Nation zu einer Anklage auf Hochverrat zusammen, mit der Schlussfolgerung, dass das „new Affangelium“ von diesem „bubisch Wetterhan“ zur Revolte gegen die Obrigkeit ermutigen würde.120 Doch Vetters Zitatenreihe erstreckt sich auch auf theologische Untersuchungen; dabei zitiert er neben Luther auch Matthias Flacius, Johannes Brenz und Jakob Andreae ebenso wie Ulrich Zwingli, Johannes Oekolampadius (1482–1531) und Johannes Calvin (1509–1564) und sogar die antitrinitarischen Sichtweisen von Melchior Hoffmann (1495–1543) und Michael Servetus (1509/11–1553).121

Luther-Darstellungen in späterer Zeit

Luthers Leben erschien auch auf der Bühne, vor allem in den für Gymnasien verfassten Schuldramen (Kat. Nr. 16). Ein Verteidiger von Luthers Abendmahlslehre in der kryptocalvinistischen Kontroverse im kurfürstlichen Sachsen um 1590 war Zacharias Rivander (1553–1594). In seinem Luther Redivivus stellt Rivander in einem mühsamen, belehrenden Stil die Positionen Luthers und seiner Gegner gegeneinander.122 Das zahlte ihm ein benachbarter kryptocalvinistischer Pastor (der später römisch-katholisch wurde) mit einem vergifteten Karpfen heim, der Rivander sowie dessen Frau und Kind tötete.123 Als in den 1600er Jahren erneut Kriegswolken am Horizont aufzogen, stellten die lutherischen Autoren Luthers Kampf gegen Rom sowohl auf historische124 als auch auf allegorische Weise dar.125

Die Lutheraner hatten ursprünglich keine besondere Feier für den hundertsten Jahrestag von Luthers Thesenanschlag 1617 geplant. Für Vorbereitungen der Reformierten auf einen Konflikt mit dem Kaiser bedeutete das Jubiläum eine willkommene Gelegenheit zur Propaganda, dem sich die Lutheraner allmählich anschlossen, um das Ereignis zu feiern. Das Näherrücken des Jubiläums beförderte historische Untersuchungen, so etwa die von Wolfgang Franz (1564–1628) besorgte Ausgabe der Ablasstexte.126 Im Laufe des Jahres 1617 lobten von lutherischen Kanzeln gehaltene Predigten Luthers Scharfblick und seinen Mut bei der Verkündigung des Evangeliums und ebenso seine Kritik der mittelalterlichen Lehre und Frömmigkeit. Der Dresdner Hofprediger Matthias Hoё von Hoёnegg (1580–1645) wiederholte die Motive aus dem 16. Jahrhundert. So bezeichnet er Luther als „dritten Elias“, als der „geistliche Ritter vnd Kaempffer […] der den Roemischen Goliath auffs Haeupt erleget“,127 und als „ein[en] Doctor vber alle Doctores“ (Abb. 9).128

Abb. 9
Abb. 9 Matthias Hoё von Hoёnegg: Sanctus Thavmasiander Et Triumphator Lutherus, Leipzig: Abraham Lamberg/Kaspar Klosemann/Johann Glück 1617, Titelblatt. HAB: A: 231.188 Theol. (1)

Auch die Predigt des Lübecker Pastors Sebastian Schwan (1567–1638) ist ein Widerhall der Wertschätzung von Luther durch Andreas Musculus und andere Schüler, die die Art der Darstellung des Reformators maßgeblich bestimmten.129 In den folgenden Jahrzehnten änderte sich wenig an der Darstellung von Luther als historische Persönlichkeit und an der sehr genau bestimmten Art, sich seiner Gedanken zu bedienen.

Am Ende des Jahrhunderts verteidigte Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692) das Existenzrecht der lutherischen Kirchen gegen einen Großangriff des Jesuiten Louis Maimbourg (1610–1686).130 In Seckendorffs Werk findet sich ein detaillierter Bericht von Luthers Leben. Er präsentiert darin einen Luther, der von Gott große Gaben erhalten hatte, doch bemüht er sich zugleich, das ausschließlich positive Bild der Person Luthers, das in den vorherigen Generationen gezeichnet worden war, etwas zu relativieren, indem er auch Luthers Fehler erwähnte. So habe Luther sein Schriftverständnis nicht einfach durch unmittelbare Erleuchtung empfangen, sondern habe es sich durch eifriges Studium, unterstützt von göttlicher Führung selbst erarbeitet. Mit Bezug auf die zeitgenössische Schrift De habitu religionis Christianæ ad vitam civilem des gelehrten Juristen Samuel Pufendorf (1632–1694)131 behauptet Seckendorff, dass Luther das Papsttum nicht vernichten, sondern es dazu bringen wollte, anzuerkennen, dass es lediglich de jure humano existierte, die vielen Missstände (in Ablasshandel, Fegefeuer, dem Abendmahl in einerlei Gestalt, dem priesterlichen Zölibat, dem Mönchtum, in der Lehre vom freien Willen, von der Rechtfertigung durch den Glauben, von den guten Werken und ihren Verdiensten sowie in der Heiligenverehrung) abzuschaffen und gemäß der Heiligen Schrift als alleiniger Regel und Richtschnur des Glauben die reine Lehre zu unterrichten.132 Für Seckendorff blieb Luther ein Held und Kirchenlehrer, oder zumindest die Verkörperung bestimmter Kernlehren. Doch der Reformator war kein Prophet mit sekundärer Autorität in der Kirche und auch keine lebende Person mehr, der Melanchthon, Mathesius oder Spangenberg noch selbst begegnet waren, sondern konnte von Seckendorff einer milden gelehrten und kritischen Analyse unterzogen werden. Die Distanz änderte Seckendorffs Urteil, doch der polemische Kontext, dem er sich wohl bewusst war, erlaubte ihm keine wirklich kritische Ablösung. In Seckendorffs Zeit wandelte sich die lutherische Beschäftigung mit Luther immer stärker in eine historische Berichterstattung,133 und die theologischen und propagandistischen Funktionen traten in den Hintergrund, auch wenn manche Motive – etwa zur Zweihundertjahrfeier des Thesenanschlags – weitergeführt wurden.134

Als das Interesse der Anhänger der Aufklärung am Inhalt von Luthers Botschaft von der Vergebung der Sünden durch Christi Tod und Auferstehung nachließ, verlor auch seine Rolle als Vermittler des prophetischen Wortes Gottes ihre Attraktivität. Jetzt dominierten seine Taten als heroischer Verteidiger der Freiheit gegen Rom sein Bild in der Öffentlichkeit.135 Als Mann von heldenhaftem Mut, der seine „geliebten Deutschen“ gegen die römische Ausbeutung verteidigte, wurde Luther von der Romantik mit ihrem nationalistischen Fokus gefeiert, der viel später bei manchen in eine nationalsozialistische Färbung überging. Auch Luthers theologische Bedeutung hatte noch Anziehungskraft. Um die Wende zum 20. Jahrhundert unternahmen nordamerikanische Lutheraner eine 24-bändige Überarbeitung der 1740 bis 1743 gedruckten Lutherausgabe des Jenaer Professors Johann Georg Walch (1693–1775);136 im Bild, das in der Luther-Renaissance der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Reformator entworfen wurde, mischten sich erkennbar romantische Elemente mit der theologischen Tradition.137 Doch die vielen Spannungen bei der Interpretation und Darstellung Luthers im 18. und 19. Jahrhundert führten dazu, dass der theologische Inhalt von Luthers Botschaft in weiten Teilen von einem Kaleidoskop an eigenen Bildern überdeckt wurde. Gleichwohl findet Luther auch im 21. Jahrhundert seine Leser, unabhängig davon, ob sie in ihm nun einen Propheten, Lehrer, Helden oder ganz etwas anderes sehen. Die „Marke“ Luther verkauft sich jedenfalls weiterhin bestens.

Übersetzt von Klara Vanek

 

 

 


 

1  Vgl. Pettegree 2015, bes. S. 143–163.

2  Gussmann 1930, S. 276.

3  Ulrich Zwingli an Oswald Myconius, Brief vom 4. Januar 1520, in: Zwingli 1911, S. 250–252, hier S. 250. Vgl. auch Ulrich Zasius an Zwingli, Brief vom 13. November 1519, in: ebd., S. 218–222, hier S. 222. Vgl. Leppin 1999; Barnes 1988, S. 13–36.

4  Vgl. Kolb 1999; Dingel 2014c; Zeeden 1950–1952; Lohse 1983, S. 210–248; Stephan 1907.

5  Pettegree 2015, S. 162.

6  Herrmann 1934/1935, S. 59.

7  Zschoch 1995, S. 32. Vgl. Rhegius 1521b, Bl. A3 v.

8  Rhegius 1521a, Bl. B4 r. Vgl. Zschoch 1995, S. 39.

9  „Semper mihi magnus fuit Lutherus. At iam mihi maximus est.“ Zit. n. Zschoch 1995, S. 351.

10  Rhegius 1562, Bd. 2, S. LXXX r.

11  Myconius 1718, S. 24 u. 25.

12  Ebd., S. 25.

13  Ebd., S. 23.

14  Sachs 1523. Vgl. Balzer 1973.

15  Wackernagel 1864–1877, Bd. 3, S. 74–77, hier S. 74.

16  Wengert 1994, S. 71–92.

17  Edwards 1975, S. 112–126.

18  Scribner 1994, S. 14–36.

19  Kat. Wittenberg 2015, S. 234f.

20  Ebd., S. 239–243.

21  Schnell 1983, S. 116, Nr. 6; S. 117, Nr. 10.

22  Ebd., S. 115, Nr. 5; Abb. S. 116.

23  Ebd., S. 118, Nr. 13.

24  Benz 1968; Volz 1970.

25  Kat. Wittenberg 1996. Vgl. Scribner 1986b, S. 383f.

26  Kreuch 1579.

27  Poach 1559, Bl. F4 rv.

28  Edwards 1994.

29  Kolb 1999, S. 139–142; Wolgast/Volz 1980, S. 429–460.

30  Wolgast 1993, S. 43.

31  Arnold 1996, S. 323–391.

32  Vgl. Kohnle 2002.

33  Wolgast 1993, S. 43.

34  Dingel 2012.

35  Flacius 1549a; Flacius 1549b. Vgl. Dingel 2000.

36  Westphal 1549; Westphal 1550. Vgl. Dingel 2005.

37  Dingel 2014b.

38  Christian 1553, Bl. A3 v.

39  Rembe 1888, S. 41.

40  Rembe 1887, S. 90.

41  Mörlin u. a. 1562, Bl. B3 v, C3 v–C4 r, D2 r, D3 v.

42  Musäus/Autumnus 1567, Bl. B3 v.

43  Luther 1572, Titel.

44  Dingel 1994, S. 38.

45  Zit. n. Dingel 2014a, S. 1468.

46  Rembe 1888, S. 58.

47  Wigand 1569, Bl. C5 v–C6 r.

48  Luther 1539, S. 657,18–658,12.

49  Menius 1539, Bl. x5 v.

50  Luther 1545.

51  Melanchthon 1838, Sp. 692f.

52  Melanchthon 1839.

53  Luther 1555–1558. Vgl. Wolgast 1968.

54  Luther 1555–1558, Bd. 1, Bl. *1 v.

55  Ebd., Bd. 1, Bl. *1 v–*2 r.

56  Luther 1556, Luther 1565b. Vgl. Volz/Wolgast 1970, S. 363–400.

57  Luther 1564, Luther 1565a. Vgl. Wolgast/Volz 1980, S. 544–558.

58  Aurifaber 1566. Vgl. Junghans 2001, S. 160f.

59  Börner 1729, S. 1.

60  Edwards 1975.

61  Müntzer 1524.

62  Bullinger 1564, S. 63 r–64 v. Für Spangenbergs Entgegnung siehe Spangenberg 1565. Vgl. Dingel 2007.

63  Unter anderem Herdesianus 1579, S. 2–8. Vgl. Dingel 1996, S. 232–245.

64  Vgl. Dingel 1996, S. 245–248; Hasse 1995.

65  Dingel 1994.

66  Lampadius 1611, S. 425–464. Vgl. Hoёs Antwort in Hoё von Hoёnegg 1611, S. 91 u. 115f.

67  Kolb 2013.

68  Cochlaeus 1529. Vgl. Bagchi 1991.

69  Cochlaeus 1549, S. 79.

70  Immenkötter 1983, S. 99; Herte 1935, S. 272. Siehe dazu auch Herte 1943; Pesch 1982; Backus 2008, S. 20–25.

71  Spangenberg 1564, Bl. A8 r – v; Spangenberg 1568, Bl. a1 v–a3 r. Vgl. Herrmann 1934/1935, S. 23; Volz 1930, S. 31–35.

72  Gruppe 1974. Vgl. Brückner 1974; Scribner 1986a.

73  Jonas 1546a.

74  Bugenhagen 1546, Bl. A3 r, A4 r.

75  Melanchthon 1546, Bl. b r.

76  Pollicarius 1548.

77  Wengert 2016, S. 15.

78  Ebd., S. 32. Vgl. ebd., S. 31 f., 39f.

79  Pollicarius/Ritter 1554. Vgl. Wengert 2016, S. 19–22, 36f.

80  Rabus 1556. Vgl. dazu Kolb 1987.

81  Rabus 1556, S. i r.

82  Ebd., S. i v.

83  Ebd., S. cxii v.

84  Ebd., S. iiii v.

85  Ebd., S. xliiii v–xlv r.

86  Ebd., S. liiii r.

87  Ebd., S. lxx v u. lxxix v.

88  Ebd., S. lxxiiii v.

89  Ebd., S. cxlvi v.

90  Ebd., S. clxvii r–clxxi v.

91  Mathesius 1916/1919.

92  Mathesius 1576, S. 187 r.

93  Zeeden 1950–1952, Bd. 1, S. 37. Vgl. Volz 1930, S. 52–63.

94  Mathesius 1576, S. 131 r.

95  Ebd., Vorrede, Bl. D3 v–D4 r.

96  Ebd., Vorrede, Bl. D4 r–E r.

97  Ebd., Vorrede, Bl. E2 r.

98  Ebd., S. 4 r, 187 v.

99  Ebd., S. 182 v.

100  Ebd., S. 15 v.

101  Ebd., S. 40 v.

102  Ebd., S. 40 v–41 r.

103  Wolgast 1993, S. 64.

104  Mathesius 1576, S. 97 v–106 v.

105  Ebd., S. 124 v–125 r.

106  Ebd., S. 139 v.

107  Ebd., S. 150 r–154 v.

108  Musculus 1561, Vorrede, Bl. Aii r–Aviii r. Vgl. Stambaugh 1978, S. 191–195.

109  Musculus 1573, Bl. A2 v.

110  Otto 1552; Glaser 1557; Glaser 1574; Lapaeus 1578.

111  Rembe 1888, S. 34.

112  Ebd., S. 41.

113  Spangenberg 1561, Bl. A4 rv.

114  Ebd., Bl. B v.

115  Spangenberg 1589.

116  Bell 2014.

117  Eine solche Kompilation ist Vetter 1600.

118  Vetter 1595, Bl. A2 r.

119  Ebd., Bl. A2 r.

120  Vetter 1606, S. 48.

121  Vetter 1598.

122  Rivander 1593.

123  Halvorson 2016.

124  Hartmann 1601.

125  Rinckart 1613; Rinckart 1618.

126  Franz 1618.

127  Hoё von Hoёnegg 1617, S. 2.

128  Ebd., S. 12. Vgl. Schönstädt 1978, passim.

129  Schwan 1618.

130  Seckendorff 1688–1692.

131  Pufendorf 1687. Vgl. Dingel 1998.

132  Seckendorff 1714, Sp. 2691–2700.

133  Bspw. Juncker 1699.

134  Bspw. Berghauer 1717; Feischer 1717; Seelig 1717.

135  Hinlicky 2014.

136  Luther 1880–1910.

137  Stayer 2000; Assel 2014.

 

 

Zitierempfehlung: Robert Kolb: Lutherbilder der Frühen Neuzeit. In: Luthermania – Ansichten einer Kultfigur. Virtuelle Ausstellung der Herzog August Bibliothek im Rahmen des Forschungsverbundes Marbach Weimar Wolfenbüttel 2017. Format: text/html. Online: http://www.luthermania.de/exhibits/show/robert-kolb-lutherbilder-der-fruehen-neuzeit [Stand: Zugriffsdatum].