Luther, der Heilige

Einführung in die Sektion

Hole Rößler

Zu den zentralen Gegenständen von Luthers Kritik an der nachmals katholisch genannten Kirche gehörten die Heiligenverehrung, die mit ihr verbundenen religiösen Praktiken sowie das päpstliche Recht auf Heiligsprechung.1 Dessen ungeachtet wurde er selbst noch zu Lebzeiten, vor allem aber nach seinem Tod 1546 in Schrift und Bild zum Heiligen erklärt. Im vielfach aufgelegten Theatrum Diabolorum (1569 u. ö.), einer von lutherischen Pfarrern verfassten Sammlung satirisch-moraldidaktischer Traktate über unterschiedliche Vergehen und Laster, ist etwa die Rede von „Sanct Lutherus“ und vom „heiligen Mann Gottes“.2 In manchen Kirchen wurden Lutherskulpturen zu den Heiligenfiguren auf dem Altar gestellt.3 Und ab 1521 kamen Porträts des Reformators mit einem Heiligenschein in Umlauf (Abb. 1, siehe Kat. Nr. 10).4

Abb. 1
Abb. 1 Unbekannter Formschneider: Luther als Mönch mit „Luterus“-Nimbus, aus: Johann Wolf: Lectionum memorabilium et reconditarum centenarii XVI, Lauingen: Rheinmichel 1600 –1608, Bd. 2, S. 78. HAB: Graph. Res. A: 392

Deutlich erkennbar waren diese Darstellungen Luthers denen von Heiligen in der römischen Kirche anverwandelt. Zumindest in der Theorie bestand jedoch ein wesentlicher Unterschied darin, dass Luther zufolge die Heiligen nicht als Medium der Fürbitte vor Gott fungierten.5 Wesentlich für die lutherische Auffassung von den Heiligen war vielmehr deren Vorbildfunktion, an der auch die von Luther geförderten Zusammenstellungen von Heiligenviten durch Georg Major (1502–1574) und Georg Spalatin (1484–1545) orientiert waren.6 In diesem Sinne argumentiert auch Philipp Melanchthon (1497–1560), wenn er in seiner Leichenpredigt auf Luther dessen Weisheit und Tugendhaftigkeit rühmt, den Verstorbenen als Exempel christlicher Lebensführung vorführt und ihn in eine Reihe mit den christlichen Propheten, Aposteln und Kirchenlehrern stellt.7 Die Engführung von Vorbildlichkeit und Heiligkeit ermöglichte einen neuen hagiographischen Kanon, der von Luther angeführt wurde und lange Zeit Bestand hatte – auch wenn der konkrete Inhalt, für den das Vorbild ‚Luther‘ stand, erheblichen historischen Konjunkturen unterlag (Abb. 2).

Gleichwohl fehlte es vor allem nach Luthers Tod nicht an Versuchen, dem Reformator das traditionelle Merkmal der Heiligkeit, Wundertätigkeit, zuzuschreiben. Anfang des 17. Jahrhunderts nannte etwa der Theologe Matthias Hoë von Hoënegg (1580–1645) Luther prominent in der Titelei seiner biographisch-apologetischen Abhandlung einen „heiligen Wundermann“ („Sanctus Thaumasiander“).8 Es häuften sich Erzählungen von Wundern, die von ihm persönlich oder von Gegenständen aus seinem Besitz bewirkt worden seien (siehe dazu die Beiträge von Stefan Laube und Martin Steffens).9 Sebastian Fröschel (1497–1570), Archidiakon der Wittenberger Stadtkirche und langjähriger Vertrauter Luthers, berichtet in einer Predigt, wie Luther bei einem 18‑jährigen Mädchen durch Gebet und Handauflegen den Teufel ausgetrieben habe.10 Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts erschienen zahlreiche Textsammlungen mit ‚Prophezeiungen‘ Luthers, deren Bewahrheitung wiederum dessen Sonderrolle bestätigten.11 Daneben verbreiteten sich Berichte über wundertätige und feuerfeste Bildnisse des Reformators,12 die an argumentative Strategien anknüpften, die im Zusammenhang mit der Kanonisierung ‚neuer Heiliger‘ im 15. Jahrhundert entstanden waren:13 Die übernatürlichen Eigenschaften des Abbildes belegten den ontologischen Sonderstatus des Urbildes. Derartige Wundererzählungen waren zum Teil sicherlich Ausdruck traditioneller Heiligenverehrung, wie sie noch lange verbreitet war. Nicht zuletzt aber unterstrichen sie auch die institutionellen Ansprüche der Lutheraner. Wenngleich Fröschel Luther im Zusammenhang mit dem von ihm vorgenommenen Exorzismus sagen lässt, dass anders als zu Zeiten der Apostel keine „Wunderwerck und Zeichen“ mehr nötig seien, um „ein newe Lere zubefestigen“,14 so scheinen die ‚lutherischen Wunder‘ doch gerade das Bild vom „heiligen Anfang“15 des Luthertums zu unterstützen. Das zugrundeliegende Modell war freilich der traditionellen, nunmehr altgläubigen Ekklesiologie (Lehre von der Kirche) entlehnt. Prominent zählte etwa der ebenso gelehrte wie streitbare Jesuit und nachmalige Kardinal Roberto Bellarmino (1542–1621) in seinen Disputationes (1586–1593) Wunder zu den wesentlichen und mithin notwendigen Merkmalen der katholischen, d. h. universalen Kirche (notae ecclesiae).16

Abb. 2
Abb. 2 Unbekannter Künstler: Porträt Martin Luther, Punktierstich, aus: [Georg Michael Eisenbach]: Missions-Geschäft des Dalai-Lama, [Nürnberg]: o. D. 1798. Bl. A2 r. HAB: Portr. I 8341

Daraus erklärt sich auch die Vehemenz, mit der katholische Kontroverstheologen bis weit ins 18. Jahrhundert versuchten, die lutherischen Wundergeschichten zurückzuweisen, zu entkräften oder umzudeuten. Friedrich Staphylus (1512–1564), ein ehemaliger Student Luthers, der 1553 zum Katholizismus konvertiert war, deutete die vermeintlichen Wunder, die Luther bewirkt habe, als Einflüsterungen des Teufels und präsentierte seinen Lesern überdies eine alternative Version der Wittenberger Teufelsaustreibung, wobei er wie Fröschel seine persönliche Augenzeugenschaft behauptete. Demnach wollte der Teufel keineswegs weichen, sondern habe Luther dermaßen in Panik versetzt, dass dieser „in ängsten umbhergelauffen/ und wie ain schaff das nicht lorbern kan/ gewunden.“17

Vor allem in den anlässlich der zweiten Säkularfeier der Reformation 1717 gedruckten Publikationen erfuhren die lutherischen Wundergeschichten und Prophezeiungen noch einmal besondere Aufmerksamkeit. Während einerseits kontroverstheologische Schriften an die Adresse der römischen Kirche zumeist betonen, dass es für die Legitimation Luthers und seiner Kirche keiner Wunder bedurfte, werden diese andererseits in den Jubiläumsschriften für das eigene konfessionelle Lager ausführlich gewürdigt.18 Gerade diese Literatur bot den katholischen Autoren wiederum reichlich Anknüpfungspunkte für Kritik und Polemik. Besonders engagiert war der böhmische Jesuit Johann Kraus (1649–1732), der sich gleich in mehreren umfangreichen Werken mit Luthers Wundertaten, Prophezeiungen und dessen Reliquien befasste. In Kraus’ Der Wunderbare Wunderthätige Und Wundersame Luther (1716) werden etliche dieser Erzählungen, darunter auch die Teufelsaustreibung und die Wiedererweckung eines Toten durch Luther, einer kritischen Revision unterzogen und ins Reich der Legende verwiesen.19 Die Verehrung von Luthers ‚Reliquien‘ hingegen versucht Kraus der Lächerlichkeit preiszugeben, wenn er behauptet, dessen Nachtstuhl sei noch Mitte des vorangegangenen Jahrhunderts in Wittenberg ausgestellt gewesen und „von denen Schwangern Weibern zuweilen erbehten worden/ um die Geburth in etwas zu befördern.“ Das Argument von der Beweiskraft der wundertätigen Dinge für die Qualität ihres Vorbesitzers aufgreifend, fügt Kraus spöttisch hinzu: „Was Wunderwerck wird nicht Luther selbst auff die Welt bringen/ wan sein Nacht-Kachel so kräfftig befunden wird.“20

Die ‚Heiligsprechungen‘ Luthers gehörten zu der Strategie der reformatorischen Bewegung, sich durch eine Ursprungserzählung als eine, ja die christliche Kirche zu legitimieren. Das bedeutete nichts weniger, als die Geschichte der Christenheit und insbesondere die Kirchengeschichte umzuschreiben. Die 1517 einsetzende Geschichte der Reformation wurde um eine Vorgeschichte etwa der ‚Protoreformatoren‘ Jan Hus (um 1369–1415) und Girolamo Savonarola (1452–1498) oder – im Fall der Magdeburger Zenturien – gar bis zu den Aposteln erweitert. Mit Luther und insbesondere mit dem Thesenanschlag ließ sich aber ein Anfang benennen und datieren, was gleichermaßen Mythosbildung und ritualisiertes Gedenken ermöglichte.21 Den reformatorischen Historikern diente Geschichte mithin als „Waffe“ in konfessionellen Kontroversen.22 Der ‚heilige Luther‘ war dabei nur eine Spielart der Heroisierung, die Luther wiederfuhr, und vielleicht nicht einmal die wichtigste.23 Gleichwohl bestand ihr Zweck nicht allein darin, ein Ersatzobjekt für die traditionelle Heiligenverehrung bereitzustellen, sondern die historische Zäsur mit dem Auftreten der gottgesandten Person zu erklären und damit überhaupt erst zu behaupten. In paradigmatischer Weise wird an der Sakralisierung Luthers die Indienstnahme unterschiedlichster Medien und Textsorten zur Konstruktion eines Zeitenwechsels erkennbar.

In Luthers Fall überlagerten sich zwei verwandte und doch differente Typen der Geschichtsschreibung: die Hagiographie und die „Männer- und Heldenverehrung“ der humanistischen Historiographie. Mit ihrer am antiken Vorbild orientierten Fokussierung auf „eine reine Historie der individuellen Tat“ verstand sich letztere vor allem als Sammlung von nachahmenswerten oder auch abschreckenden Exempeln.24 Luther war zugleich inspirierter Prophet und heldenhaftes Werkzeug Gottes, eine Hybridisierung von vita contemplativa und vita activa. Beide, einander eigentlich ausschließende Figuren, wurden schon früh zusammengeführt: Der 1521 in Straßburg gedruckte Bericht über die Ereignisse auf dem Reichstag zu Worms bediente sich einerseits in seinem Titel – Acta et res gestae D. Martini Lutheri – einer Wendung der antiken Biographik und Personengeschichte mit ihrer Konzentration auf (Helden‑) Taten von Herrschern und Kriegern und brachte andererseits das erste Bild Luthers mit Nimbus und Geisttaube in Umlauf (Kat. Nr. 10).

Luther als Objekt und Instrument der konfessionellen Identität blieb unentbehrlich. Im 18. Jahrhundert begannen indes die Darstellungen Luthers als Heiliger abzunehmen bzw. wurden durch andere Lutherbilder abgelöst, die mitunter aber auch expressis verbis auf diese älteren Formen zurückgriffen. So formulierte Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) in seiner Ode „Die deutsche Bibel“ (1784) eine regelrechte Anrufung, die jedoch weniger Luthers himmlische Existenz als vielmehr seine Rolle als Schöpfer des deutschen Nationalidioms zum Gegenstand hat:25 „Heiliger Luther, bitte für die Armen | Denen Geistes Beruf nicht scholl, und die doch | Nachdolmetschen, daß sie zur Selbsterkenntniß | Endlich genesen!“26 Insgesamt aber wurde Luther gewissermaßen ‚säkularisiert‘, d. h. seine ‚Heiligkeit‘ zunehmend durch profane Formen der Heroisierung ersetzt und mit nicht-kirchlichen Interessen verbunden. Das war zum einen durch die Verdrängung der Hagiographie durch andere Formen der Historiographie, insbesondere durch das Paradigma der Nationalgeschichte bedingt. Zum anderen aber hatte sich die Lutherische Lehre und Religionspraxis über mehrere Generationen hinweg in souveräner Abgrenzung zur katholischen Kirche etabliert, dass es derlei plakativer Angebote an die altgläubige Tradition nicht mehr bedurfte. Das Verfahren, die Ausnahmeperson Luther zum Ausgangspunkt einer Geschichte zu machen, die wiederum der Rechtfertigung der Gegenwart und Begründung eigener Forderungen diente, blieb hingegen bestehen. Daher konnte es, wie der Kirchenhistoriker Bernd Moeller schrieb, „zu dem paradoxen Resultat kommen, daß gerade historisches Bemühen zu weitgehender Verfehlung der Geschichte führte.“27


 

1  Krumhaar 1845; Pinomaa 1962; Reiter 1970; Manns 1980; Köpf 1990; Kühne 2006.

2  Feyerabend 1575, S. 379 r, 383 v, 468 rv u. 529 r. Siehe dazu auch Osborn 1893, S. 170ff.

3  Kat. Wartburg 2015, S. 122f., Kat. Nr. 51.

4  Warnke 1984, S. 31–34. Lyndal Roper hat darauf hingewiesen, dass Darstellungen Luthers als Heiliger in dem Moment aufhörten, als Luther begann, füllig zu werden (Roper 2012, S. 11f.). Daniel Hopfers Porträt Luthers mit Doktorhut und Strahlenkranz (Kat. Nr. 10, Abb. 4) widerspricht allerdings dieser Beobachtung.

5  Vgl. Pinomaa 1977, S. 77ff.; Angenendt 1994, S. 258; Sallmann 2009, S. 109.

6  Sallmann 2009, S. 109; Heming 2003, S. 48; Steiger 2012, S. 13ff.

7  Melanchthon 1546. Vgl. auch Immenkötter 1983, S. 91–94.

8  Hoё von Hoёnegg 1610.

9  Bspw. Zeämann 1625, S. 301–312. Zu den Lutherreliquien siehe Laube 2007; Kühne 2013.

10  Fröschel 1565, Bl. L v–Lv v. Diese und eine weitere ähnliche Geschichte finden sich auch in Daemonomaniae 1698, S. 84–87. Zur Teufelsaustreibung als Argument für die richtige Konfession siehe Stenzig 2006, S. 41–100.

11  Sommer 1997.

12  Scribner 1986a.

13  Siehe dazu Krass 2012.

14  Fröschel 1565, Bl. Liii rf.

15  Sallmann 2009, S. 109.

16  Cordes 2006, S. 208f.

17  Staphylus 1562, S. 155 r.

18  Siehe dazu ausführlich Cordes 2006, S. 204–212.

19  Kraus 1716.

20  Kraus 1709, S. 43.

21  Vgl. Stollberg-Rilinger 2013, S. 76. Zum Thesenanschlag und seiner Funktion in der protestantischen Historiographie siehe Leppin 2014a.

22  Kelley 1988, S. 255f. Zur Entwicklung der Historiographie unter dem Druck der Konfessionalisierung siehe auch Walther 2000, S. 124.

23  Vgl. Kaufmann 2013.

24  Hammerstein 1972, S. 18f.

25  Siehe dazu Senkel 2015, S. 100–115.

26  Klopstock 2010.

27  Moeller 2001a, S. 282.

 

 

Zitierempfehlung: Hole Rößler: Luther, der Heilige. Einführung in die Sektion. In: Luthermania – Ansichten einer Kultfigur. Virtuelle Ausstellung der Herzog August Bibliothek im Rahmen des Forschungsverbundes Marbach Weimar Wolfenbüttel 2017. Format: text/html. Online: http://www.luthermania.de/exhibits/show/hole-roessler-luther-der-heilige [Stand: Zugriffsdatum].